INSPEKTOR SVENSSON: ZWEI FRAUEN AM ZUG [Ein Fortsetzungsroman]

Die Geschichte, die ich hier erzähle, ist reine Fiktion, sie wurde in ihrer Grundidee durch ein Lied der österreichischen Sängerin Simone inspiriert, der ich diese Story auch gern widmen möchte, als kleines Dankeschön für all ihre wundervollen Songs. Sie hat an sich fast nichts mit 24 zu tun, und in welche Richtung sie genau geht, gehört zu den zahlreichen Überraschungseffekten, die Euch im Lauf der Geschichte begegnen werden. Seid gespannt und glaubt mir, wenn ich Euch verspreche: Nichts ist am Ende so, wie es am Anfang scheint! ... Aber lest selbst. Ich wünsche Euch fürs erste viel Vergnügen und spannende Unterhaltung.

Hinweis: Ich habe diese Geschichte aus eigenem Ermessen in ihrer Gesamtheit als FSK 16 eingestuft, da sie in den späteren Fortsetzungen einige etwas explizite Darstellungen beinhalten wird. Mehr möchte ich dazu noch nicht sagen, um nicht zuviel zu verraten. Aber ich bitte alle Leser den Hinweis ernstzunehmen, den wir alle von Baustellenschildern her kennen: "BETRETEN AUF EIGENE GEFAHR!"

EPISODE 1: WIE DER ZUFALL SO SPIELT

Cathrin war so sehr in die Lektüre ihres spannenden Krimis vertieft, daß sie zunächst gar nicht bemerkte, wie sich die Tür ihres Zugabteils öffnete und sich einige Sekunden später wieder schloß. Erst als ihr jemand mit dem Finger auf die Schulter tippte, bemerkte sie, daß sie jetzt hier als Fahrgast nicht mehr allein war. Sie zuckte kurz in sich zusammen, dann senkte sie das Buch in ihrer Hand und musterte ihre neue Reisebegleitung von oben bis unten.

Es handelte sich bei ihrem Gegenüber um eine junge, äußerst attraktive Frau. Sie trug ein beigefarbenes T-Shirt mit einem extragroßen v-förmigen Ausschnitt und einen Jeansminirock, der bei sehr konservativen Menschen locker als ein etwas breiterer Gürtel durchgehen würde und der durch sein enges Anliegen ihre atemberaubend schmale Taille besonders gut zu betonen vermochte. Das dunkle Nylon ihrer Feinstrumpfhose schmiegte sich an ihre glatten, langen Beine, für die der Begriff Cellulite auf ewig ein Fremdwort zu bleiben schien. Sie endeten in goldfarbenen, hochhackigen und unwahrscheinlich zierlichen Pumps, die den Fan Grimmscher Märchen sofort an Aschenputtel denken ließen. Ihr süßes, kindlich naives Gesicht mit den großen, haselnußbraunen Kulleraugen und dem - durch das Auftragen eines dezenten roten Lippenstifts noch zusätzlich betonten - Schmollmund lächelte so erfrischend unschuldig, als wüßte es noch gar nichts von den Schlechtigkeiten des rauhen Lebens da draußen.

Kurzum, sie war das, was Männer um den bei ihnen - in den Augen des weiblichen Geschlechts - eh schon recht spärlich vorhandenen Verstand zu bringen vermochte. Naja, nicht alle Männer natürlich. Ihren Steven ließen solche männermordenden Vamps völlig kalt. Nie schaute er einem dieser kurzen Röcke und tiefen Ausschnitte hinterher, wenn sie gemeinsam Hand in Hand durch die Londoner City schlenderten. Ja, ihr Steven war da eben eine rühmliche Ausnahme im Reiche der maskulinen Schürzenjäger und nebenbei gesagt noch dazu ein Traum von einem Mann.

Sicher, vor ihrer Zeit in seiner Jugend war auch ihr Göttergatte ein ziemlicher Draufgänger gewesen, so hatte sie ihn ja schließlich auch eines Abends auf dem College Abschlußball kennengelernt. Er ließ damals seine Kumpels einfach an der Bar stehen, nachdem er schon den ganzen Abend immer wieder zu ihr herübergezwinkert hatte, baute sich in all seiner stattlichen Größe vor ihr auf und fragte sie, ob sie nicht Lust hätte, mit ihm zu tanzen. Sie gab sich daraufhin zurückhaltend, auch wenn sie seinem Wunsch nur zu gern sofort nachgekommen wäre. Aber sie wollte eben nicht, daß er dachte, sie sei leicht zu haben. Und so erwiderte sie: "Das würde ich ja gern tun, aber dazu bräuchte es schon einen Tanzpartner, der mir gefällt, und ein ganz bestimmtes Lied". Sein Interesse schien geweckt, denn statt sich mit dieser Beinahabfuhr zufrieden zu geben, gab er sich ganz gelassen und selbstbewußt: "Ok, ersterer steht bereits vor Dir, bleibt also nur noch die Frage nach dem Lied". Sein Auftreten imponierte ihr, und so setzte sie alles auf eine Karte: "Tja, weißt Du, ich tanze eben nur zu 'Reality' von Richard Sanderson". Die meisten Typen hätten damals spätestens in diesem Moment klein beigegeben, denn der Ohrwurm aus "La Boum" galt in Jungskreisen als ein absolutes No-Go. Und für einen Augenblick sah es so aus, als ob das auch diesmal der Fall wäre, denn Steven ließ nur ein kurzes schwer zu deutendes "Ok" verlauten, machte auf dem Hacken kehrt und entfernte sich. Cathrin war ein wenig geknickt gewesen, und angesichts ihres gesenkten Kopfes hatte sie dann auch gar nicht mitbekommen, wie Steven mit einem kühnen Sprung zu dem DJ auf die Bühne gehopst war und ihm solange pausenlos etwas ins Ohr gebrüllt hatte, bis dieser endlich ein wenig genervt genickt hatte. Sekunden später stand er erneut vor ihr und streckte ihr siegessicher seine Hand entgegen, während der DJ auf der Bühne ein wenig gelangweilt in sein Mikro krächzte: "Ok, also auf den schwer abzuschlagenden Wunsch eines einzelnen, sehr hardnäckigen Zeitgenossen nun eine der meistgespielten Schnulzen dieser Tage - Dreams are my Reality von Mister Richard Sanderson höchstpersönlich. Ach und keine Sorge, danach gehts natürlich wieder weiter mit richtiger Musik!" Alles, was danach an diesem Abend geschah, hatte Cathrin nur noch wie in Trance erlebt ... wie sie mit Steven zwischen all den anderen eng umschlungenen Pärchen über die Tanzfläche geschwebt war, wie sie den Rest des Abends lachend seinen kleinen amüsanten Bemerkungen gelauscht hatte, wie sie nach dem Ende der Fete an seiner Seite durch das nächtliche London geschlendert war und wie er sie vor ihrem Elternhaus nur um einen kleinen Gute-Nacht-Kuß gebeten hatte, aus dem sich dann das erste wilde Zungenspiel ihres noch so jungen Lebens entwickelt hatte. Ein halbes Jahr später waren die Beiden verlobt, ein weiteres Jahr danach hatten sie geheiratet.

Cathrin widmete sich in ihren Gedanken wieder der jungen Frau, die inzwischen ihren kleinen Koffer auf der Gepäckablage verstaut und gegenüber am Fenster Platz genommen hatte. Dabei schlug sie sofort recht sitsam und scheu die Beine übereinander, um zu verhindern, daß die Kürze ihres Minirocks allzuviel von dem Darunter preiszugeben vermochte. Cathrin schaute ihr erneut ins Gesicht und schätzte sie auf Anhieb auf etwa 20 Jahre, womit sie dann genau halb so alt wäre wie Cathrin selbst und damit locker ihre Tochter hätte sein können. Die Betonung lag hierbei klar auf "hätte", denn Cathrins 17jährige Ehe mit Steven war bis dato kinderlos geblieben. Zu sehr waren ihr Mann und sie selbst damit beschäftigt, an ihren Karrieren zu basteln. Cathrin arbeitete als erfolgreiche Eventmanagerin am Royal Shakespeare Theater in Stratford Upon Avon, während ihr Gatte einen Posten als leitender Angestellter der renomierten Londoner Privatbank "Clever & Rich" innehatte. Selbstverständlich war in all dem Alltagstrott der Zauber der jungen Liebe zwischen den Beiden ein wenig auf der Strecke geblieben, aber Steven war ihr über all die Jahre im Gegensatz zu vielen anderen seiner Geschlechtsgenossen stets treu geblieben. Und wenn er regelmäßig einmal im Monat von seinen Geschäftsreisen am Wochenende zurückkehrte, dann hatte er es in all der Zeit noch nie versäumt, ihr stets wie damals am Tag seines Heiratsantrags 24 rote Rosen mitzubringen. Genau für diese Beständigkeit liebte sie ihn, genauso wie am ersten Tag, vielleicht sogar noch mehr.

Die junge Frau schaute mittlerweile aus dem Fenster, an dem die Landschaft mit all den Bäumen und goldgelben Feldern in sich ständig zu wiederholen scheinender Monotonie vorbeizog. Cathrin hingegen beschloß, sich wieder ganz ihrem Buch zu widmen, als sie ein leises Grummeln in ihrem Bauch vernahm. Ja, genau, sie hatte ja seit mehreren Stunden nichts mehr gegessen. Das Mittagessen hatte sie auslassen müssen, sonst hätte sie ihren Zug verpaßt. Daß ihr ihr Chef doch noch freigab, war einfach sehr überraschend für sie gekommen. Und als sie dann bei ihrer Rückkehr ins Hotel auch noch diesen geheimnisvollen Brief mit der Zugreservierung nach London vorgefunden hatte, den sie vermutlich ihrem Boß als Anerkennung für ihren unermütlichen Einsatz verdankte, zögerte sie nicht einen Moment und beschloß, ihren Steven zu überraschen. Denn der rechnete ja an diesem Wochenende überhaupt nicht mit ihr. Ihre Augen begannen zu funkeln und zu sprühen, allein nur bei dem Gedanken, was sie an diesem gemeinsamen freien Wochenende wohl alles zusammen unternehmen konnten. Einzig und allein ihr Bauch grummelte weiter. Cathrin erinnerte sich in diesem Moment an die beiden Äpfel und die zugehörigen Schälmesser, die sie noch in ihrer Handtasche mit sich trug. Und so nahm sie beide Äpfel und eines der Messer zur Hand und begann mit der Vorbereitung ihres kleinen Imbisses.

Ihrem Gegenüber war das emsige Treiben Cathrins mit all den damit verbundenen raschelnden, knisternden, scharrenden und knackenden Nebengeräuschen natürlich keineswegs verborgen geblieben, und so starrte das junge Ding nun mit ihren großen, wundervollen Augen statt aus dem Fenster mit ungeteilter Aufmerksamkeit auf Cathrins zwei knackige Äpfel, die diese vor ihren Augen nach und nach genüßlich aus der sie noch fest umschließenden Schale zu "entkleiden" begann. Cathrin bemerkte den Blick der Frau, lächelte ihr freundlich zu und fragte sie, ihr den noch ungeschälten Apfel und das Schälmesser darbietend: "Möchtest Du vielleicht mal probieren?" Die Kleine nickte eilig und nahm beides dankend mit der einen Hand entgegen, während sie Cathrin die andere gleichzeitig zum Gruß darbot: "Ja gerne, das ist aber lieb von Dir. Ich hab nämlich seit heut morgen nichts mehr gegessen, weißt Du. Ich war einfach zu aufgeregt. Mein Freund hat mich übers Wochenende zum ersten Mal zu sich eingeladen. Wir haben uns erst vor 12 Wochen kennengelernt. Und seitdem sehen wir uns nur am Wochenende und das auch nur einmal monatlich. Weißt Du, ich sag ja immer im Scherz zu ihm, er kommt genauso regelmäßig wie meine Regel". Sie mußte selbst lachen über diese Bemerkung, und dieses Lachen war von einer unschuldigen Reinheit und Unbefangenheit, daß es Cathrin sofort anzustecken begann. Scheinbar hatte sie nur auf eine Gelegenheit gewartet, ihr großes Liebesglück mit einem anderen teilen zu können, denn die Worte sprudelten nun förmlich nur noch so aus ihrem Munde heraus: "Ach, ich hab mich ja noch gar nicht bei Dir vorgestellt. Ich heiße Jane und feiere morgen meinen 21. Geburtstag. Ich bin Kunststudentin im sechsten Semester. Meinen Freund hab ich eines schönen Samstagabends auf einer Collegeparty getroffen, er hat mich einfach so zum Tanzen aufgefordert und ich hab sofort ja gesagt. Ich hab ihm nur in seine wundervollen blauen Augen gesehen und da war es um mich geschehn. Liebe auf den ersten Blick. Und dabei dachte ich immer, sowas gibts nur im Kino. Er hat mich dann noch nach Hause gebracht, und vor meiner Haustür hat er mich dann um einen Gute-Nacht-Kuß gebeten. Tja, was soll ich Dir sagen, eine halbe Stunde später lagen wir schon zusammen in der Kiste ...". Cathrin hörte kurzzeitig auf, dem Redefluß der Kleinen zu folgen und horchte stattdessen in sich hinein, wo etwas in ihr einen tiefen Seufzer auszustoßen schien. Es war wie ein Deja-Vu. Alles kam ihr so vor, als ob sie hier in diesem Mädchen ihre Jugend noch einmal im Zeitraffer erlebte. Manche Dinge änderten sich auf dieser Welt wohl nie. Wie sehr sehnte sie sich in diesem Augenblick nach ihren Steven, der vermutlich einsam und nichtsahnend in ihrer kleinen Londoner Vorstadtvilla über irgendwelchen Geschäftspapieren hockte oder, um sich ein wenig vom Alleinsein abzulenken, gelangweilt im Pub um die Ecke ein Bier trank.

Die junge Frau ihr gegenüber schälte derweil emsig ihren geschenkten Apfel und plauderte nebenher ununterbrochen weiter. Cathrins Augen aber klebten nun an ihren zarten Händen mit den langen Fingerchen und den Fingernägeln, die unter einem Hauch von glitzendem Nagellack in der strahlenden Sonne zu funkeln begannen. Ganz genauso, wie ihre roten Wangen funkelten, immer wenn sie über den Mann ihrer Träume sprach, den sie doch erst so kurze Zeit kannte und der dennoch ihr ganzes junges Leben mit tiefer Glückseligkeit zu erfüllen schien. Am linken Handgelenk der Kleinen bemerkte Cathrin erst jetzt beim genaueren Betrachten ein silbernes Armkettchen mit einem Schild, auf dem anscheinend etwas eingraviert war. Cathrin drehte ihren Kopf ein wenig zur Seite, denn sie war neugierig, was da stand. Schließlich gelang es ihr, die Inschrift zu entziffern - es handelte sich um einen Namen, vermutlich den ihres Freundes, und der war: Stevie. Welch ein unglaublicher Zufall? Und nun war es Cathrin, die vor Erstaunen nicht mehr an sich halten konnte, und die damit ihre neue Bekannte in ihrem ungebremsten Redefluß stoppte: "Dein Freund heißt Stevie? Das ist ja unglaublich, mein Mann heißt nämlich ganz ähnlich: Steven. So langsam glaub ich, bei unserem Zusammentreffen hier im Zug hat das Schicksal seine Hand im Spiel". Janes Augen waren durch Cathrins Offenbarung nur noch größer geworden und nun war sie wohl wieder an der Reihe, etwas zu sagen: "Wow, das gibts ja nicht! Echt?! Weißt Du, ich nenn meinen Süßen ja immer Stevie Wonder. Er hört das ja nicht so gern, weil er immer denkt, ich will ihn irgendwie mit der Tatsache aufziehen, daß er ein ganzes Stück älter ist. Und dann sagt er immer: 'Und außerdem bin ich weder blind noch farbig, höchstens ab und zu mal farbenblind, wenn ich mit meinem Auto eine rote Ampel überfahren hab'. Naja, mein Stevie ist halt ein kleiner Spinner. Aber ein ganz süßer. Und das Armkettchen hat er mir zu unserem zweimonatigen Jubiläum gekauft. Hat ihn eine ganze Stange Geld gekostet glaub ich, aber er kann es sich leisten. Er ist irgendwie ein höherer Angestellter in dem Laden, wo er arbeitet. Darum ist er ja auch ständig unterwegs, weißt Du. So eine Art Außendienstmitarbeiter eben. Aber sag mal ..." Und damit fiel ihr Blick auf Cathrins diamantbesetzten Ehering, "... der ist ja auch nicht von Pappe. Mein lieber Scholli, darf ich mal sehen?!" Ohne Cathrins Antwort abzuwarten, griff Jane nach ihrer Hand und zog sie zu sich herüber. Dabei war sie keineswegs ruppig. Im Gegenteil: Jane streichelte mit ihren sanften Fingern immer wieder über Cathrines Handrücken, während sie sich verzückt mit strahlenden Augen von allen Seiten her den glitzernden Edelstein und den ihn umschließenden goldenen Ring genaustens betrachte. Cathrin schloß die Augen. Sie genoß die unschuldige Berührung der jungen Dame, die doch eigentlich nur ihre Hand für einen Moment gefangenhielt und damit dennoch gleichzeitig irgendwie auf eine geheimnisvolle Art Cathrins ganzen Körper und ihre ganze Seele in ihren Bann zu ziehen vermochte ...

EPISODE 2: BERÜHRUNGSPUNKTE

Die beiden Frauen verharrten einige Minuten in diesem Zustand, wenngleich es Cathrin auch gar wie eine Ewigkeit vorkam, in der die Zeit quasi stillzustehen schien. Als sie die Augen wieder aufschlug, entdeckte sie zwei kleine Tränchen der Rührung in Janes Gesicht. Jane schluchzte ein wenig und meinte dann voller Euphorie: "Ach, ich hoffe bei meinem Stevie und mir wird es mal genauso schön, wenn er mich eines Tages vor den Traualtar führt und mich damit zur glücklichsten Frau auf der Welt macht, zu seiner Frau. Klingt das nicht einfach wunderbar: Misses Jane Napolitani". Cathrin hatte während Janes Ausführungen noch völlig im Rausch der Gefühle nur immer wieder ganz sacht mit ihrem Kopf genickt, doch beim letzten Satz war sie plötzlich zur Salzsäule erstarrt und hatte beide Augen weit aufgerissen. Das durfte nicht wahr sein, ihr Gehör mußte sie betrogen haben. Das konnte ... nein, das durfte diese Frau einfach nicht gesagt haben! Und doch, sie hatte es gesagt. Cathrin hatte es ja selbst laut und deutlich vernommen, da gab es einfach keinen Zweifel! Ihr war, als ob ihr jenes so sorglos dahin gesprochene Wort die Kehle zuschnürte, während ihr gleichzeitig jeder einzelne Buchstabe wie ein spitzer Dolch ins Herz hineinfuhr: N-A-P-O-L-I-T-A-N-I. Konnte es nicht Smith oder Miller sein oder irgendein anderer Allerweltsname? Dann hätte sie es sicher einfach lächelnd als eine weitere zufällige Gemeinsamkeit abtun können, aber so war jeder Zufall von vornherein ausgeschlossen ...

Auch Jane hatte inzwischen den veränderten Gesichtsausdruck Cathrins bemerkt. Besorgt beugte sie sich zu ihrer neuen Bekannten herüber, legte ihr zartes Händchen behutsam auf deren zitternde Knie und fragte: "Ist alles in Ordnung mit Dir?" Unsanft stieß Cathrin Janes Arm zur Seite. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, ihre Augen blitzten "der Anderen" zornig entgegen und ihre sonst so süße, liebevolle Stimme verwandelte sich im Bruchteil einer Sekunde in einen wild tobenden Orkan, aus dem es förmlich herausbrauste: "In Ordnung?! Gar nichts ist hier in Ordnung! Ich bin nämlich Misses Napolitani, und niemand sonst! Steven Napolitani ist mein Mann! Mein Mann! Und das schon seit mehr als 17 Jahren. Mit Brief und Siegel. Vor Gott und der Welt. Bis das der Tod uns scheidet!" Nur langsam realisierte Jane, was Cathrin damit sagen wollte. Denn auch sie wollte es einfach nicht wahrhaben, konnte es einfach nicht begreifen. Ihr über alles geliebter Stevie sollte mit einem Schlag gar nicht ihr Stevie sein, sondern vielmehr Cathrins Steven ... ein verheirateter Mann, für den sie am Ende vielleicht nicht mehr war als ein flüchtiges, nettes Abenteuer. Unter der Last dieser bitteren Erkenntnis brach nun auch Jane von einer Sekunde auf die andere förmlich in sich zusammen. Bäche von Tränen ergossen sich aus ihren eben noch so strahlenden Äuglein. Ungläubig schüttelte sie minutenlang ihren Kopf hin und her, während sie ununterbrochen immer wieder den einen Satz vor sich her stammelte: "Sag mir doch bitte, bitte, daß das nicht wahr ist!" Diese jämmerliche Gestalt rührte Cathrins wutentbranntes Herz im gleichen Augenblick so sehr an, daß in ihm unmittelbar aus dem flammenden Zorn heraus eine Form von tiefem Mitgefühl entsprang. Mitgefühl für ein so unschuldiges, liebenswertes Geschöpf, dessen Traumschloß mitsamt Märchenprinz für sie eben gerade genauso in sich zusammengestürzt war wie ihr eigenes. Und diesmal wagte Cathrin den ersten Schritt, beugte sich hinüber zu Jane und streichelte mit ihrer Hand sanft über den Kopf der weinenden jungen Frau.

Die Berührungen Cathrins schienen Jane gut zu tun, denn langsam beruhigte sie sich. Schließlich wagte sie es sogar wieder, ihren Kopf ein wenig zu heben und Cathrin - wenn auch nur scheu und ganz zaghaft - in die Augen zu schauen, während sie sie mit zittriger Stimme fragte: "Bist Du mir jetzt böse? Aber das hab ich ja nicht gewußt! Ich hab das doch nie gewollt! Nicht mal geahnt hab ich das!" Cathrin rutschte noch mehr an Jane heran und schloß sie schließlich ganz fest in ihre Arme: "Ach Kleines, das weiß ich ja! Verzeih mir, daß ich so wütend war! Es war ja nicht böse gemeint! Du bist ja nicht Schuld an all dem! Du kannst doch nichts dafür!" Janes Gesicht ruhte inzwischen auf Cathrins Schulter, wo deren Seidenbluse die Tränen der jungen Frau in sich aufzusaugen versuchte. Cathrins Blick war auf das Fenster gerichtet, an dem noch immer das Leben da draußen im Zeitraffertempo vobeizuziehen schien. Doch das alles registrierte sie in diesem Augenblick gar nicht, ihre Gedanken kreisten um Jane, um ihren Mann Steven und um sich selbst. Nein, nicht Jane war Schuld an allem, und sie selbst war es auch nicht. Schuld war einzig und allein Steven, der sie beide wochenlang belogen und betrogen hatte. Sicher war er jetzt gerade in der gemeinsamen Villa damit beschäftigt, alle Spuren ihrer Existenz zu beseitigen, während er sich schon auf die baldige Ankunft seiner Geliebten freute. Gewiß waren Sekt und Erdbeeren schon kaltgestellt, das Hochzeitsfoto gemeinsam mit dem Ehering in einer der Schubladen verschwunden und das Ehebett im Schlafzimmer schon frisch bezogen und aufgeklappt in Erwartung der leidenschaftlichen Stunden, welche er sich von jener unschuldigen Schönheit erwartete, die sich in dieser Sekunde hier an ihrer Schulter ausheulte.

Und während Cathrin die leise schluchzende Jane immer noch in ihrem Arm hielt, überkam sie erneut dieses unbeschreiblich innige Gefühl, das zuvor schon die bloße Berührung von Janes Hand in ihr ausgelöst hatte. Nur daß ihr jenes bis zum heutigen Tage völlig unbekannte, magische Gefühl nun noch stärker vorkam als zuvor. Was war das nur, was da in Cathrin vorging. Weckte dieses arme junge Ding einfach nur mütterliche Instinkte in ihr, oder war es am Ende doch mehr?! Jane löste ihren Kopf ein wenig von Cathrins Schulter, und Cathrin schaute nun direkt in ihr kleines, verweintes Gesicht, in welchem unter dem Einfluß der Tränenströme das dezente Makeup langsam zu verlaufen begann. Ein ganz besonders dickes Tränchen bahnte sich gerade in diesem Moment den Weg über die linke Wange der jungen Frau. Cathrin beobachtete den glitzernden Tropfen einen Augenblick lang, dann konnte sie einfach nicht anders ... Sie nahm Janes Kopf vorsichtig zwischen ihre beiden Hände, näherte ihre Lippen jener tränenbedeckten Stelle und küßte ihr - ohne weiter nachzudenken - mit ihrem Mund den Tropfen ganz einfach fort.

In diesem Augenblick öffnete sich unerwarteterweise die Tür, und ein großer, stattlicher Mann betrat das Abteil ...

EPISODE 3: KREUZUNGEN

Der Zugestiegene sah sich in dem Abteil um, und sein Blick landete bei Cathrin, deren Lippen immer noch an Janes Wange klebten. Er räusperte sich daraufhin zweimal, wodurch er - wie beabsichtigt - die ungeteilte Aufmerksamkeit der beiden Frauen erhielt, die ihm nun geradezu schockiert entgegenstarrten. Der Mann räusperte sich ein drittes Mal, dann sagte er mit tiefer, fester Stimme: "Wie ich sehe, habt ihr Euch ja schon mal miteinander bekannt gemacht. Sehr schön! Das erspart uns dann auf jeden Fall all die langwierigen Erklärungen und vor allem auch jede Menge kostbarer Zeit, die wir alle Drei sicher sinnvoller verbringen können, wenn ich Euch erst in meine Pläne eingeweiht habe. Ihr gestattet doch, daß ich beginne?!".

Von den beiden Frauen konnte er im Moment keine Antwort erwarten, denn sie saßen immer noch wie versteinert auf ihren Sitzen. Damit hatte schließlich keine von ihnen gerechnet, daß ausgerechnet er hier auftauchen würde. Ausgerechnet Stevie, nein Steven ... wie auch immer: jedenfalls der Mann, den sie beide - jede für sich - aufopferungsvoll geliebt und dem sie bis vor wenigen Augenblicken noch uneingeschränkt vertraut hatten. Sie Beide wähnten ihn schließlich in London, wo ihn die Eine von ihnen überraschen hatte wollen, während er insgeheim die Andere erwartete. Und nun, da sie Beide herausgefunden hatten, daß er mit ihnen beiden wochenlang ein falsches Spiel getrieben hatte ... nun stand ER direkt vor ihnen. Wie konnte er nur ... Wie um alles in der Welt konnte er ihnen Beiden jetzt gegenübertreten und das mit einer Gelassenheit und unverfrorenen Selbstverständlichkeit, die wohl weit und breit ihresgleichen suchte ...

Ihr gemeinsamer "Freund" hängte unterdess ganz selbstverständlich seinen Mantel an einem der Haken auf, verschränkte die Arme vor seinem fitneßgestählten Waschbrettbauch und begann - in Stile einer Vorstandssitzung in seiner Bank - seine Ausführungen: "Meine liebe Cathrin, liebste Jane! Auf diesen Moment habe ich schon den ganzen Tag gewartet. Seit Wochen kann ich nun schon nicht mehr richtig schlafen, weil ich hin und her überlegt habe, wie ich mich nur zwischen Euch beiden faszinierenden Wesen entscheiden soll. Und wißt Ihr was? Ich habe endlich meine Entscheidung getroffen, und ich habe Euch hier zusammenkommen lassen, weil ich es für an der Zeit halte, sie Euch mitzuteilen!"

Langsam begannen Cathrin und Jane zu ahnen, daß es kein Zufall war, daß sie sich hier und heute im Zug begegnet waren. Und Schicksal war es auch nicht, es war vielmehr alles von "ihrem" Steven bis aufs Kleinste im Voraus geplant gewesen. Nicht Cathrins Chef hatte ihr die Plätze für den Zug reserviert, ER war es gewesen - ER, der er ja auch Janes Platz reserviert hatte! Und wie Cathrin ihn kannte - falls sie ihn überhaupt jemals kannte - hatte er sicher auch gleich das ganze Abteil, wenn nicht gar den ganzen Wagen, reserviert ... um nur ja nichts dem Zufall zu überlassen. Er war eben ein absoluter Perfektionist, was solche Dinge anging. Sicher hatte er auch seine kleine Rede hier bereits ein Duzent mal zuhause vor dem Spiegel einstudiert und jede zugehörige Geste, jeden einzelnen Augenaufschlag hundertmal geübt und perfektioniert, bevor er hier vor sein zweiköpfiges "Publikum" getreten war, dem er nun "seine Entscheidung" mitzuteilen geruhte, was sich dann aus seinem Munde so anhörte:

"Du, Cathrin, bist mir seit mehr als 17 Jahren, eine gute, stets liebevolle und treusorgende Ehefrau gewesen. Und dennoch hat sich so eine Art langweilige Routine in unsere Ehe und besonders in unser Liebesleben eingeschlichen, daß ich in Versuchung geriet, mir an anderer Stelle eine neue, frische Bereicherung - einen kleinen Kick - zu holen. Und da kommst Du ins Spiel: wundervolle, süße, unschuldige Jane. Du warst in den vergangenen Wochen meine Versuchung, meine Bereicherung, mein Kick. Du warst so begehrenswert und spritzig in Deiner zwanglosen Spontanität und so herrlich offen für alles Neue. Du hast mich berauscht und betört mit Deinem Wesen, so daß ich Dich schon nach dieser kurzen Zeit einfach gar nicht mehr wegdenken kann aus meinem Leben".

Cathrin blickte Jane an, Jane schaute Cathrin an, dann starrten Beide wieder zu Steven hinüber ... Was wollte er damit nur sagen? Was sollte das denn nun in seiner Konsequenz bedeuten. Die Frauen kamen sich vor wie vor der Ein-Mann-Jury bei der Entscheidung einer dieser Castingshows im Fernsehen. Und gleich würde Chefjuror Steven verkünden, wer weiter war und für wen der Traum vom Leben an seiner Seite in diesem Moment enden und damit zum Alptraum vom ewig bitteren Alleinsein werden würde, oder wie?! Gespannt warteten Cathrin und Jane darauf, daß Steven endlich zum Punkt käme. Und genau das schien er in diesem Augenblick wohl auch vorzuhaben:

"Tja, wie gesagt, ich hab mich also nach langem Abwägen aller Kriterien endlich entschieden. Und zwar dazu, daß ich mich ... nicht entscheide! Wozu auch? Warum soll ich einer von Euch den Vorzug geben? Und warum soll ich mich einer von Euch wegnehmen? Wozu soll ich eine von Euch Beiden ganz und gar aufgeben? Wie kann ich einer von Euch so schrecklich wehtun, wo ich Euch doch alle Beide so sehr in mein großes Herz geschlossen habe. Und so kam mir am Ende eine ganz einfache und geradezu geniale Idee, die uns alle Drei in vollster Weise zufriedenstellen wird. Cathrin, mein Schatz, wir haben doch einen geradezu riesigen Gästebereich in unserer Villa. Wir haben keine Kinder, unsere Wohnung ist doch viel zu groß für uns Beide allein. Und Jane, mein Engel, Du willst doch nicht ewig in Deiner kleinen engen Kammer unterm Dach hausen, oder? Du hast etwas Besseres verdient als dieses Loch! Warum zieht Jane also nicht einfach zu uns? Keine Sorge, Cathrin! Offiziell wird sie ganz unspektakulär als unsere Untermieterin bei uns wohnen. Und dennoch können wir so hinter verschlossenen Türen eine Menge Spaß miteinander haben, der uns alle ungeheuer bereichern wird. Meint Ihr nicht auch?"

Eine direkte Antwort auf seine Frage bekam Steven weder von Cathrin noch von Jane. Das hatte er auch gar nicht erwartet. Wozu auch? Für ihn war das einfach eine geniale Idee, bei der niemand leer ausging, vor allem er selbst nicht. Und doch glaubte er in seinem Kopf ganz fest daran, daß er das alles ganz im Sinne seiner "beiden Frauen" entschieden hatte. Auch wenn die Zwei es vielleicht noch nicht so ganz einsahen, war es dennoch zweifellos das Beste für sie. Cathrin war schließlich die Erste, die sich aus ihrer mehrminütigen Erstarrung zu befreien vermochte. Sie erhob sich von ihrem Sitzplatz und schaute Steven tief in seine graublauen Teddybärknopfaugen, die sie schon damals am Abend ihres Kennenlernens sofort in ihren Bann gezogen hatten, und begann dann mit zittriger Stimme: "Was Du uns hier also allen Ernstes vorschlägst, ist eine Beziehung zu dritt, ja?" Steven nickte: "Ja, mein Schatz, genau das ist es. Weißt Du, genau das liebe ich so an Dir. Deinen scharfen Verstand und Deine klare Sichtweise der Dinge". Ganz in sich gekehrt machte Cathrin auf dem Absatz ihrer schwarzen Pumps kehrt, während sie leise und doch hörbar vor sich her murmelte: "Ok, wenn es dann das ist, was Du willst!" Mit diesen Worten kramte sie einen Moment lang in ihrer Handtasche, bevor sie an Jane herantrat, sich zu ihr herüberbeugte und ihr etwas ins Ohr flüsterte, was Steven trotz größter Anstrengungen nicht zu verstehen vermochte. Jane sah Cathrin daraufhin mit großen, entsetzten Augen an, während diese erneut liebevoll über ihr weiches Haar strich und ihr leise zuraunte: "Vertrau mir, Kleines, so ist es einfach am Besten!" Jane zögerte noch einen Moment, dann nickte sie Cathrin zu.

Cathrin, die nur noch auf diese Zustimmung Janes gewartet zu haben schien, drehte sich wieder um und ging dann ohne ein weiteres Wort festen Schrittes vorbei an Steven in Richtung der Tür, wo sie - ohne zu zögern - alle Gardinen zuzog, während Jane zur gleichen Zeit das halbgeöffnete Zugfenster schloß und dann das Rollo am Fenster herunterließ. Steven sah ein wenig verunsichert zu den beiden Frauen herüber, schließlich fragte er Cathrin: "Sag mal, was tut Ihr Zwei denn da?" Und Cathrin erwiderte mit einem kleinen Lächeln in ihrem entschlossenen wirkenden Gesicht: "Wonach sieht es denn aus für Dich? Ich glaube, bei dem, was wir jetzt vorhaben, brauchen wir ja wohl keine ungebetenen Zuschauer oder?" Steven glaubte zu verstehen. Das es so einfach sein würde, und daß es bereits hier im Zug so enden würde mit ihm und "seinen beiden Ladies", das hatte er sich in seinen kühnsten Träumen nicht auszumalen gewagt. Ein lüsternes Grinsen wuchs ihm aus seinem sonst so abgeklärten Antlitz heraus. In der Schummrigkeit des Abteils traten nun beide Frauen langsam an ihn heran, ganz nah an ihn und immer näher, bis er ihren Atem spüren konnte ... den von Cathrin auf seiner Brust und den von Jane auf seinem Rücken. Das ganze "Spiel" erregte ihn ungeheuer. Und als letztendlich wenige Sekunden später in einem Tunnel völlige Dunkelheit in das Abteil einkehrte, war nur noch ein leises Stöhnen zu vernehmen, das zweifelsohne ganz allein Steven zuzuordnen war ...

EPISODE 4: ENTGLEISUNGEN

Der Zug hatte den Tunnel schon vor etwa sechs Minuten wieder verlassen, so daß das verdunkelte Abteil nun wieder in jenes schummrige Licht getaucht war, in dem man recht deutlich die Umrisse der drei anwesenden Personen erkennen konnte. Die beiden Frauen saßen sich auf den Sitzbänken gegenüber - jede von ihnen nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet und noch immer sichtlich erregt durch das Geschehen der vergangenen Minuten - und rauchten gemeinsam eine Zigarette "danach". Ihnen zu Füßen auf dem Boden lag schwer atmend Steven. Im Schein der glimmenden Zigaretten konnte man die beiden Frauen zu seiner Rechten und Linken recht gut erkennen: ihre spärlich bekleideten, anmutigen Körper, deren Rundungen und Wölbungen unter dem dünnen Stoff - welcher sie mehr betonte als verhüllte - wohl jeden heterosexuellen Mann sofort in ihren Bann gezogen hätten. Nur Steven hatte dafür in seinem momentanen Zustand anscheinend keine Augen. Er lag einfach nur da und war beschäftigt ...

Beschäftigt damit, zu stöhnen und zu bluten - zu bluten aus jeder einzelnen der insgesamt 24 Stichwunden, die seinen eben noch so makellosen Körper übersäten und die sich völlig gleichberechtigt jeweils im Dutzend über Brust und Rücken verteilten. Der einzige erkennbare Unterschied bestand vielleicht in ihrer Breite und Tiefe: Die Einstiche im Rücken waren ein wenig zaghafter geführt worden als die im Brustbereich, so daß aus ihnen das Blut auch etwas langsamer heraussickerte, während es vorn geradezu herauszuströmen schien. Schon beeindruckend, wieviel von diesem roten Lebenssaft so ein menschlicher Körper in sich sammelte, selbst der von diesem betrügerischen Mistkerl, konstatierte Cathrin kühl, während sie die Asche ihrer Zigarette zwischen ihren ein wenig zitternden Fingern im Abfallbehälter unter dem Fenster abschlug. Jane, die ihr gegenüber am ganzen Körper bibberte, hatte inzwischen aufgeraucht und entsorgte ihren Zigarettenstummel mit einer kurzen Handbewegung durch das inzwischen wieder leicht angeklappte Zugfenster. Cathrin sah zu ihr herüber. Das arme Ding schien noch völlig unter Schock zu stehen. Zu sehr hatte sie Janes kleine. bis dato so herrlich unschuldige Welt mit ihrem plötzlichen Vorschlag erschüttert, diesen eiskalt berechnenden Kerl einfach genauso eiskalt für immer zum Schweigen zu bringen. Und dennoch hatte die kleine Jane tapfer und entschlossen das noch bereitliegende Schälmesser zur Hand genommen und es diesem doppelten Betrüger wieder und wieder zwischen die Rippen gejagt, so wie es Cathrin mit dem zweiten - ihrer Handtasche entnommenen - Messer zur gleichen Zeit an der entgegengesetzten Seite von Stevens Körper praktiziert hatte. Dabei hatte Cathrin bei jedem Zustechen mit fester Stimme leise von 1 bis 12 gezählt - ein Stich für jede betrogene Woche im Leben der beiden Frauen. Irgendwann war Steven dann noch einmal laut aufstöhnend in sich zusammengesunken und schließlich regungslos auf dem Boden liegengeblieben. Auf jenem Boden, auf dessen Teppich sich inzwischen eine riesige Blutlache angesammelt hatte.

Auch Cathrin hatte nun den letzten Zug an ihrer Zigarette getan und entsorgte sie, wie Jane zuvor, durch das angekippte Fenster. Dann stand sie langsam auf und beugte sich wie in Zeitlupe zu Steven herunter. Seine Augen waren weit geöffnet und hatten schon fast ihren Glanz verloren, sein Blick ging starr zur Decke. Sein leises Stöhnen war infolge seiner zahlreichen inneren Verletzungen und Blutungen inzwischen in ein tiefes Röcheln übergegangen - der verzweifelte Versuch eines Sterbenden, sich doch noch mit letzter Kraft an sein jämmerliches Stück Leben zu klammern. Cathrin blickte "ihrem Steven" ein letztes Mal tief in seine graublauen Pupillen, dann raunte sie ihm zynisch grinsend ins Ohr: "Ich hoffe, es war für Dich genauso schön wie für uns Beide, Schatz!" Ohne auf eine Reaktion seinerseits zu warten, zu der er in diesem Stadium seines Ablebens zweifellos eh nicht mehr imstande war, richtete sie sich wieder auf und wandte sich nun der noch immer auf ihrem Sitz kauernden Jane zu. Cathrins Stimme erlangte dabei all ihre Sanftheit zurück, während sie behutsam auf ihre Leidensgenossin einredete: "Jane, Kleines! Wir müssen jetzt stark sein. Wir wollen doch nicht wegen diesem Dreckskerl, der auf einen einzigen Schlag unser beider Liebe zu ihm so sehr in den Schmutz gezogen hat, lebenslänglich in den Knast wandern, oder?! Hör zu, mein Engel! Du begibst Dich jetzt erstmal ganz vorsichtig in den Waschraum nebenan und wäschst Dir gewissenhaft das ganze Blut von Deinen Händen und Deinem Körper. Ich beseitige derweil unsere Spuren hier im Abteil. Wenn Du wiederkommst, nimmst Du ein paar frische Sachen aus Deinem Koffer und ziehst Dich um! Hast Du das verstanden, Kleines?" Jane nickte ein wenig verunsichert. Dann erhob sie sich und schwankte mit zitternden Beinen zur Tür ihres Abteils. Cathrin hielt sie einen Moment am Verschluß ihres BH's zurück: "Warte mal, Engelchen! Ich schau erstmal nach, ob die Luft da draußen auch rein ist!"

Mit diesen Worten öffnete Cathrin die Tür einen Spalt weit und steckte ihren Kopf hinaus. Sie lugte nach rechts und nach links, aber auf dem langen Gang war weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Und ebensowenig drang eine Stimme oder ein Geräusch an ihre lauschenden Ohren. Cathrin wurde mutiger. Sie schob die Tür ganz auf und schlich langsam und ein wenig geduckt zum Nachbarabteil. Es war völlig menschenleer, ebenso wie das nächste und das übernächste. Cathrin nickte zufrieden. Steven, dieser berechnende Mistkerl, hatte wohl - wie sie bereits zuvor vermutet hatte - alles bis ins Kleinste geplant und jeden möglichen Zufall von vornherein ausgeschlossen, indem er gleich den ganzen Wagen für sich und seinen ekelhaften Plan angemietet hatte. Das stets Berechnende an ihm machte ihn selbst so unglaublich leicht berechenbar - und nun konnte es im besten Fall den beiden betrogenen Frauen schlußendlich sogar noch zur unentdeckten Flucht verhelfen, wenn sie es nur geschickt genug anzustellen vermochten. Cathrin hatte sich inzwischen zum Waschraum begeben und die Tür aufgestoßen. Dann gab sie Jane ein Zeichen, daß sie kommen könne. Und während Jane sich im Waschraum wie abgesprochen von ihrer Bluttat reinwusch, hatte Cathrin im Abteil ihre Bluse als Putzlappen benutzt und damit sorgfältig jeden einzelnen Quadratzentimeter des Abteils durchgewischt. Sie war sich dabei nur zu gut bewußt, daß jede noch so kleine, ausgelassene Stelle einen Fingerabdruck oder einen Fußabdruck zurücklassen könnte, der den ermittelnden Beamten später unweigerlich auf die Spur der beiden Frauen führen würde - womit sie dann alle Zwei direkt eine Fahrkarte ins Gefängnis lösten. Das aber durfte um keinen Preis der Welt geschehen, denn es würde bedeuten, daß Steven noch im Tode über seine beiden Opfer triumphieren würde. Und diesen Triumph gönnte ihm Cathrin keinesfalls, nicht nach dem, was er Jane und ihr angetan hatte.

Jane war inzwischen wieder vor dem Abteil angekommen und klopfte leise an die Tür. Dann warf sie durch den Türspalt ihren BH und ihren Slip in das Abteil, wo Cathrin beides zusammen mit den anderen blutverschmierten Kleidungsstücken auf dem Fußboden in eine bereitgelegte Plastiktüte steckte. Cathrin reichte Jane im Gegenzug die beiden Koffer nach draußen, woraufhin Jane damit begann, sich aus dem ihren komplett neu einzukleiden. Schließlich entledigte auch Cathrin sich der letzten beiden blutbeschmierten Wäschestücke, die sie noch am Körper trug, verstaute auch diese in der Plastiktüte und begab sich dann mit einem über den Arm geworfenen Handtuch vorbei an Jane und den Koffern über den Flur zum Waschraum.

Das kalte Wasser auf der Haut tat Cathrin unheimlich gut. Während sie sich ausgiebig wusch, betrachtete sie ihr Gesicht aufmerksam in dem kleinen Spiegel des engen Eisenbahn-WC's. Äußerlich hatte sie sich so gar nicht verändert. Noch immer sah ihr von ihrem Spiegelbild her eine attraktive, bodenständige Frau entgegen, die dunklen Haare akurat hochgesteckt. Die wenigen Fältchen, die ihr Gesicht zeichneten, machten sie in ihren eigenen Augen eher noch interessanter, als daß sie sie in irgendeiner Weise alt erscheinen ließen. Nein, sie war immer noch haargenau dieselbe Frau, und doch hatte sich in ihrem Inneren innerhalb der letzten Stunde einfach alles verändert. Nach Stevens schamloser Offenbarung hatte sie sich inmitten der Trümmer all ihrer Hoffnungen und Träume von Liebe und Glück wiedergefunden. Beinahe wäre sie für einen Augenblick selbst daran zerbrochen. Doch dann war etwas in ihr aufgekeimt und hatte sich Luft gemacht, was sie so zuvor nie in sich vermutet, geschweige denn erlebt hatte: grenzenloser Haß. Aus ihrem Traummann Steven war von einem Moment auf den anderen ein ihr völlig fremdartiges, widerwärtiges Schwein geworden, das ihr mit seinem seelenmordenden Triebgesteuertsein einen tiefen und tödllichen Dolchstoß in ihr liebendes Herz versetzt hatte - einen Dolchstoß, den sie ihm nun im Gegenzug in aller Nüchternheit gleich dutzendfach zurückgegeben hatte. Noch einmal versenkte Cathrin ihr wunderschönes Gesicht im frischespendenden Wasser des Waschbeckens, dann trocknete sie sich nach und nach sorgfältig jeden Quadratzentimeter ihres Körpers mit dem Handtuch ab, bevor sie sich wieder zurückbegab - zurück auf den Flur, wo Jane und ein Koffer mit frischer Kleidung schon auf sie warteten.

Eine Viertelstunde später erreichte der Zug einen kleinen Vorort von London, wo er ein letztes Mal vor seiner Endstation im Herzen der brittischen Hauptstadt Halt machte. Nur etwa eine Handvoll Fahrgäste stieg hier ein und aus, bevor sich der Zug langsam anfahrend wieder in Bewegung setzte - unter den Ausgestiegenen auch zwei zauberhafte junge Damen, die ruhig und scheinbar unendlich gelassen Arm in Arm über den Bahnsteig schlenderten, dem Ausgang des Bahnhofsgebäudes und damit gleichzeitig einer völlig ungewissen Zukunft entgegen ...

EPISODE 5: AUF DEM ABSTELLGLEIS

Das grelle Flutlicht der eilends aufgestellten Scheinwerfer durchbrach die abendliche Dämmerung und ließ es ringsum noch einmal taghell erscheinen. Der einzelnstehende Eisenbahnwaggon auf dem verlassenen Abstellgleis nahe der menschenüberfluteten Victoria Station im Herzen Londons, den sie mit ihrem warmen Licht anstrahlten, wirkte dadurch wie die Hauptattraktion einer Ausstellung in einem Freiluft-Eisenbahn-Museum. Und tatsächlich erregte der unscheinbare altmodische Waggon einiges an Aufmerksamkeit, denn am Rande der großräumigen Absperrung durch die Polizei tummelten sich Dutzende Schaulustige und Reporter, welche die anwesenden Polizeibeamten mit Fragen löcherten. Innerhalb der Absperrung herrschte ebenfalls emsiges Treiben. Gerichtsmedizin und Spurensicherung liefen hin und her, bestiegen den Wagen und entstiegen ihm Minuten später wieder, nur um ein paar Utensilien in ihren mitgebrachten Koffern zu verstauen und andere zu entnehmen, bevor sie erneut in dem Eisenbahnwagen verschwanden.

Ein roter Jaguar hielt direkt an der Absperrung, dem nur Sekunden später ein junger Mann mit Anzug und Krawatte entstieg, wobei er letztere mit der linken Hand noch einmal penibel zurechtzog, während er lässig mit seiner rechten einen Ausweis aus seiner Jackentasche hervorholte. Dem Beamten an der Sperrlinie schenkte er nur ein kühles Lächeln, bevor er ihm mit einem Fingerschnippsen andeutete, jener solle das Absperrband schleunigst anheben, damit der Schlipsträger ungehindert hindurchschreiten könne. Im selben Moment stürzte bereits ein etwa gleichaltriger Mann mit Brille und chicem Miami-Vice-Outfit aus Richtung des Eisenbahnwagens auf ihn zu und fuchtelte aufgeregt mit den Händen in der Luft herum, wobei er in einer einen elektronischen Organiser und in der anderen ein Handy hielt. Der Brillenträger flüsterte dem Schlipsträger minutenlang etwas ins Ohr, wobei der Schlipsträger hin und wieder mild lächelte und sich anschließend in strahlender Siegerpose den zahlreichen Presseleuten zuwandte:

"Meine Damen, meine Herren, geschätzte Pressevertreter! Ich bin Inspektor Wannabe von Scotland Yard. Bei dem Toten handelt es sich um einen 36jährigen Landsmann mit italienischem Migrationshintergrund. Er wurde nach den bisherigen Erkenntnissen am späten Nachmittag des heutigen Tages in dem vor ihnen stehenden Waggon eines Zuges von Manchester nach London mit insgesamt 24 Messerstichen in Brust und Rücken förmlich hingerichtet. Von Beruf war er leitender Angestellter eines renomierten privaten Bankhauses, was im Zusammenspiel mit den brutalen Umständen seines Todes, seiner Herkunft und dem bisherigen Stand unserer Ermittlungen den ersten Schluß nahelegt, daß es sich vermutlich um ein weiteres Opfer des in letzter Zeit in unserer Stadt tobenden Mafiamachtkampfes der beiden rivalisierenden Familien Makkaroni und Spirelli handeln könnte. Weitere Details kann ich ihnen leider zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht mitteilen, auch und vor allem, um die laufenden Ermittlungen nicht zu gefährden. Vielen Dank! ... Ach ja, wie gesagt, mein Name ist Wannabe, das ist W-A-N-N-A-B-E, und der Vorname ist Charles".

Während sich Wannabe selbstzufrieden lächelnd umdrehte und sich an der Seite seines bebrillten Assistenten nun auch endlich einmal der Tatortbesichtigung widmete, traf unbeachtet von den Schaulustigen am Rande der Absperrungen ein älterer Herr auf einem Fahrrad ein, welches er nach dem Absteigen gewissenhaft an einen der zahlreichen alten Holzschuppen ankettete. Auch er zückte einen Dienstausweis aus der Tasche seines alten abgenutzen Trenchcoats und hielt ihn einem der hinter der Absperrung stehenden Beamten entgegen. Dann grüßte er den Polizisten freundlich per Handschlag, lächelte ihm zu und fragte: "Na, Frank. Wieder mal Spätschicht? Was machen Anne und die Kinder?" Der Beamte winkte nur ab und erwiderte dann: "Von wegen Spätschicht! Ich bin schon wieder seit 6 Uhr auf den Beinen. Die Freuden einer netten Doppelschicht eben, wird so langsam zur Gewohnheit. Obwohl - so recht gewöhnen will man sich eigentlich nicht daran. Und Anne schimpft jeden Abend im Bett mit mir wie ein Rohrspatz, weil ich nie da bin für sie und für unsere beiden Töchter. - Und wie stehts bei Ihnen, Inspektor Svensson?" Der Mann im Trenchcoat schüttelte den Kopf: "Frank, ich hab Dir doch schon tausendmal gesagt, Du sollst endlich dieses dämliche Inspektor Svensson lassen. Wie lange kennen wir uns jetzt schon? Ich bin der Taufpate Deiner Jüngsten. Und selbst die sagt Onkel Lukas zu mir", woraufhin er dem uniformieren Freund auf die Schulter klopfte und ergänzte: "Ach, und sonst. Man geht halt so langsam auf die Rente zu. In vier Jahren steh ich genauso auf dem Abstellgleis wie der alte verbeulte Wagen dahinten. Nur die Scheinwerfer, die zeigen dann längst auf einen Anderen". Und damit deutete er auf Wannabe, der gerade würdevoll den Eisenbahnwagon bestieg. Svensson strich sich nacheinander andächtig über das schütter gewordene Haupthaar und dann über das akurat getrimmte Schnurrbärtchen, welches seinem faltenreichen Allerweltsgesicht etwas ganz Besonderes verlieh und fügte, während er in gebückter Haltung unter dem Absperrband hindurchkletterte, hinzu: "Meine Zeit läuft ab. Hab halt wenig am Hut mit diesen ermittlungstechnischen Schnellschüssen, dem medienwirksamen Stargetue und dem ganzen Elektronikkram. Und Wannabe sitzt mitsamt seinem kleinen Schoßhündchen Sergeant Crawler längst in den Startlöchern und wartet nur noch auf meinen Rückzug. ... Aber jetzt mußt Du mich erstmal entschuldigen, Frank. Ich glaub, ich unterhalt mich mal mit dem diensthabenden Zugpersonal, bis das bunte Getümmel am Tatort ein wenig nachgelassen hat und ich in aller Ruhe einen Blick auf den Toten werfen kann. Wo hat man die Zugbegleiter denn eigentlich untergebracht?". Der Uniformierte wies mit dem Finger auf das sonst leerstehende Gebäude der ehemaligen Bahnhofsmission. Svensson reichte dem Freund noch einmal die Hand und begab sich dann zu den möglichen Zeugen.

Inspektor Wannabe sah sich derweil aus gebührendem Abstand in Anwesenheit seines unmittelbaren Vorgesetzten und zukünftigen Schwiegervaters Chefinspektor Freakadelly in dem Abteil mit dem Toten um. Dabei achtete er tunlichst darauf, nur nichts zu berühren - allerdings weniger, weil er keine Spuren verwischen wollte, sondern aus Angst, sich hier den teuren Anzug zu ruinieren. Der tote Steven lag noch immer mit weit aufgerissenen Augen zur Decke starrend inmitten des Raumes. Auch sein ganzer lebloser Körper war inzwischen längst erstarrt und hatte - mit Ausnahme der zahllosen mit angetrocknetem Blut verschmierten Wundränder - eine blaugräuliche Farbe angenommen. Den Toten umgab noch immer jene riesige Blutlache, die das entweichende Lebenselexier beim Austritt aus seinem Leib auf dem Teppich hinterlassen hatte. Wannabe schnippste wieder mit den Fingern und deutete damit der anwesenden Gerichtsmedizinerin an, ihm einen möglichst kurzen und klaren Erkenntnisbericht zu geben. Die junge Dame, die bis dato noch neben der Leiche gehockt hatte, erhob sich und baute sich ein wenig unbeholfen und schüchtern vor dem Inspektor auf und begann dann ein wenig zögernd ihre Ausführungen: "Todeszeitpunkt dürfte nach aktuellem Stand etwa 16 Uhr gewesen sein - plusminus eine Stunde. Genaueres bringt uns die Autopsie. Das Opfer weist exakt 12 tiefe und ziemlich breite Stiche in der Brust und ebenso viele im Bereich des Rückens auf, wobei letztere allerdings mit etwas weniger Intensität ausgeführt wurden. Daraus wäre zu folgern, daß es sich entweder um mehrere Täter handelte oder aber um einen Einzeltäter, der die Stiche in den Rücken um den Körper herum ausführte, wodurch die Waffe dort natürlich nicht mit der gleichen Kraft geführt werden konnte. Bei der Tatwaffe handelt es sich vermutlich um ein Taschenmesser oder ein kleines Küchenmesser. Wie gesagt, mehr an Erkenntnissen gibt es frühstens morgen im Laufe des Tages nach einer intensiven rechtsmedizinischen Untersuchung". Wannabe nickte und knurrte dabei ein wenig, für alle Kenner des Inspektors seine Art sich zu bedanken und seinem Gesprächspartner zu signalisieren, daß er sich nun wieder entfernen dürfe. Die junge Frau im hellblauen Kittel verstand und schenkte nun ihre ungeteilte Aufmerksamkeit wieder dem toten Steven Napolitani, während Wannabe schon den nächsten möglichen Berichterstatter zu sich heranschnippste.

Bei dem angetretenen Mitdreißiger mit dem dunklen Ganzkörperumhang, dessen Haube selbst noch die kurzgeschnittene Haartracht bedeckte, handelte es sich klar um den Chefbeamten der Spurensicherung, der auch direkt seinen Vortrag begann: "Abteil und Wagen wurden komplett auf Spuren untersucht. Leider gibt es keine verwertbaren Finger- oder Schuhabdrücke, das Blut scheint auf den ersten Blick einzig und allein von dem Toten zu stammen. Jemand hat mit einem Tuch oder etwas ähnlichem das gesamte Abteil penibelst ausgewischt. Das benutzte Tuch bestand nach ersten Erkenntnissen aus gelber Seide - wir haben einige Fasern gefunden, die dem Labor zur weiteren Auswertung übergeben werden. Im Gang und auf dem WC gibt es zahllose verschiedene Abdrücke, wie das in einem öffentlichen Verkehrsmittel ja auch völlig normal ist. Hier würde die Einzelauswertung Jahre in Anspruch nehmen, und der Erfolg ist trotzdem äußerst fraglich. Für mich ein aussichtloses Unterfangen, bei dem Aufwand und Nutzen in keinerlei Verhältnis stehen würden - es sei denn, sie wollten mit einem Schlag bis zu einhundert harmlose Zugreisende gleichzeitig lebenslang im Gefängnis unterbringen. Das Waschbecken im Bad zeigt verwaschene Blutspuren, hier haben sich der oder die Täter scheinbar ausgiebig gesäubert. Aber auch hier wurden wieder im Nachhinein alle Spuren säuberlich verwischt. Kurzum: Spurentechnisch gesehen gibt es bei dieser Tat nach momentanen Erkenntnissen nicht den geringsten Anhaltspunkt".

Wannabes Knurren ließ den Spurensicherer abtreten, sein erneutes Schnippsen den leitenden Beamten der Bahnpolizei antreten, der mit seinen Mitarbeitern unmittelbar nach dem Auffinden des Toten die Tatortsicherung und die Erstbefragung möglicher Zeugen durchgeführt hatte. Dieser räusperte sich kurz und streckte Wannabe - den er noch nicht das zweifelhafte Vergnügen gehabt hatte kennenzulernen - freundlich die linke Hand zum Gruß entgegen. Erst als dieser auch Sekunden später keineswegs Anstalten machte, den Gruß zu erwidern und ihn nur fast mitleidig ansah, zog auch er die Hand wieder zurück und stammelte: "Sergeant Smith, Sir! Also das ist ... mein Name ... Ja, gut. Ich hab nach dem Auffinden des Opfers gleich den Notarzt rufen lassen, der den Tod feststellte. Dann hab ich dafür gesorgt, das der Waggon ausgekoppelt und von der Victoria auf dieses Abstellgleis gezogen wurde, wo ich besser sicherstellen konnte, daß kein Unbefugter den Tatort betritt". Er machte eine kleine Pause, obwohl er vonseiten Wannabes inzwischen gar nicht mehr mit einer anerkennenden Geste rechnete, und fuhr dann fort: "Den Zugführer und den Zugbegleiter hab ich befragt, ihre Personalien notiert und sie dann in der alten Bahnhofsmission untergebracht, falls sie sie selbst noch einmal vernehmen möchten?!" Wannabe registrierte - wenn auch ungern - die im letzten Satz versteckte Frage und sah sich so zu einer Reaktion genötigt, die gewohnt kurz und knapp daherkam: "Dazu fehlt mir die Zeit. Ich hab Wichtigeres zu tun, mein Lieber, als ihre Arbeit für sie zu übernehmen! Also, was haben Sie in Erfahrung gebracht? Aber zügig, bitte! Schließlich sind sie Bahnpolizist". Ob der kleine Wortwitz der letzten beiden Sätze beabsichtigt war oder nicht, ließ sich Wannabes Gesicht nicht entnehmen, also verzichtete Sergeant Smith auf jeglichen Ansatz eines Lächelns und konzentrierte sich dafür ganz aufs knappe Antworten: "Aufgrund der vermutlichen Todeszeit ist anzunehmen, daß die Tat noch vor dem letzten Zwischenstop in Hampstead erfolgte. Dort sind nach Aussagen des Zugbegleiters zwar wohl wie immer um diese Zeit etwa eine Handvoll Personen ausgestiegen, aber gesehen hat er nichts Auffälliges. Und der Zugführer hat sich ganz auf seine Lok und die Strecke konzentriert ...". Wannabe fehlte noch eine Information und so hakte er nach: "Was ist mit den anderen Fahrgästen im Waggon?". Sergeant Smith überschlug sich nun fast bei seiner Erwiderung: "Ja, das ist das Merkwürdige! Die gab es nicht. Der Tote selbst hatte vor einer Woche komplett den ganzen Wagen samt aller Plätze auf seinen Namen reserviert".

Das war Wannabes Stichwort. Er ließ Smith einfach stehen und sah breitgrinsend zu Freakadelly hinüber, um ihm nun karrierewirksam endlich seine längst vorgefertigte Version vom möglichen Tathergang auszubreiten: "Also, Sir! Ich denke, es hat sich so abgespielt: Dieser Napolitani hat in seiner Funktion als leitender Bankangestellter insgeheim Geld gewaschen für Vincenzo Makkaroni, auf dessen Empfängen sein Bankdirektor ja auch schon des öfteren gesehen wurde. Spirellis Leute haben natürlich auch Wind von der Sache bekommen und beschlossen, Makkaroni eins auzuwischen, indem sie Napolitani brutal umlegen. Sie haben ein Treffen mit ihm arrangiert, angeblich um ihn abzuwerben. Er mietete daraufhin den Eisenbahnwaggon für das Treffen. Und Spirellis Männer knipsten ihm im Zweierpack die Lichter aus. Dann haben sie alle Spuren in gewohnter Gründlichkeit verwischt und den Zug unbeobachtet in Hampstead verlassen". Dem Chefinspektor gefielen die Ausführungen seines zukünftigen Schwiegersohns sichtlich: "Interessante und durchaus schlüssige Geschichte, Charles. Wenn wir das vor Gericht durchkriegen, dann haben wir sowohl Spirelli als auch Makkaroni mit einem Schlag am Haken zu baumeln. Und für die Medien werden wir sozusagen über Nacht die Helden der Nation. Ich laß Dir bei den Ermittlungen freie Hand. Und Du unterstehst in diesem Fall allein mir. Svensson bleibt außen vor, der macht das Ganze nur unnötig komplizert mit seinem ewigen In-alle-Richtungen-Ermitteln. Wo steckt der eigentlich schon wieder?"

Wannabes Assistent Crawler trat aus dem Hintergrund hervor und meldete voller Übereifer: "Sir, Inspektor Svensson vernimmt noch einmal auf eigene Faust den Zugbegleiter, statt wie befohlen hier am Tatort anwesend zu sein". Crawlers Gesicht strahlte, er hatte es schon in seiner Schulzeit genossen, seine Klassenkameraden bei den Lehrern anzuschwärzen und dafür von oben her gelobt zu werden. So war halt jeder irgendwie auf seine Art auf der Suche nach Anerkennung. Der Chefinspektor war sichtlich erzürnt über diese Neuigkeit: "Charles, hol mir sofort den Svensson her! Eh er noch irgendwelchen Schaden anrichtet durch seine unverantwortlichen Alleingänge!" Wannabe nickte und lief eilig hinüber zur Baracke der Bahnhofsmission. Und tatsächlich - da stand Svensson in seinem altmodischen Trenchcoat mit dem antiquierten Schreibblock in der Hand und notierte sich, was der vermeintliche Zugbegleiter auf seine Fragen antwortete. Gerade als der alte Inspektor dem Befragten zum Abschied die Hand reichte, ertönte hinter ihm die wohlvertraute Stimme seines Unterstellten Wannabe: "Svensson, zum Chef! Aber pronto, wenns geht!" Milde lächelnd drehte sich Svensson langsam zu Wannabe um und sagte: "Ja, Wannabe, ich freu mich auch, Sie zu sehen. Wie gehts denn? Was machen die frisch Verlobte und die Karriere? Und wie gehts dem zukünftigen Herrn Schwiegerpapa? ... Ach lassen Sie nur, das kann ich ihn ja alles gleich selber fragen!" Und während er noch so redete, verließ er bereits festen Schrittes das Gebäude der Bahnhofsmission in Richtung des Eisenbahnwagens und ließ den fassungslosen Wannabe einfach stehen ...

EPISODE 6: VERSPÄTETE ANKUNFT

Der kühle Abendwind hatte einzelne Nebelschwaden in den Vororten Londons zusammengetrieben, die das idyllisch gelegene Anwesen in der Al-Meida-Street 88 in einen dünnen grauen Schleier tauchten und dadurch das sonst so makellos strahlende Weiß des Außenanstrichs der Hauswand glanzlos erscheinen ließen - der poetisch veranlagte Beobachter hätte wohl angesichts dieses Anblicks sogar von einer Art natürlichem Trauerflohr reden mögen. In diesem Moment war für den Bruchteil einer Sekunde ein leises Klicken im Schaltelement des an der Hauswand angebrachten Bewegungsmelders zu vernehmen, und das grelle Licht der über dem Eingangsbereich angebrachten Lampe fiel auf die beiden Frauen mit ihren Koffern, von denen die ältere gerade ein Schlüsselbund aus der Manteltasche kramte, um dann mit einem der daran befindlichen Schlüssel die Haustür aufzusperren.

Cathrin drehte sich sanft lächelnd zu Jane, die immer noch ein wenig verunsichert wirkte, um und verkündete mit einer einladenden Handbewegung : "Mi casa es su casa". Nur sehr zurückhaltend überschritt die auf diese Weise Eingeladene die Schwelle des Hauses - und das keineswegs, weil ihre Spanischkenntnisse nicht ausreichten, um den Sinn von Cathrins Aussage zu verstehen. Im Gegenteil: Sie hatte schon in der Schule Spanisch als Fremdsprache gehabt und während ihrer Studienzeit in den Semesterferien sogar einmal in Barcelona die Ferien verbracht. Was sie vielmehr zögern ließ, war die Tatsache, daß die riesige Villa bis vor wenigen Stunden noch das gemeinsame Heim ihres Liebhabers und seiner Ehefrau gewesen war - jener faszinierenden Unbekannten, die sie erst gerade im Zug kennengelernt hatte und zu deren Komplizin sie durch die Verkettung tragischer Umstände nun geworden war.

Jane blickte sich vorsichtig um. Meine Güte, von innen wirkte das Haus ja noch gewaltiger als von außen. Der erste Eindruck, den Jane von der Innenausstattung gewann, war derselbe, den sie schon im Zug von der Hausherrin gehabt hatte - beide strahlten auf ihre Art eine sympathische Wärme aus, in deren Nähe man sich sofort irgendwie geborgen fühlte. Cathrin hatte inzwischen ihren Mantel abgelegt und an der Flurgarderobe aufgehängt. Nun trat sie von hinten an Jane heran, berührte mit beiden Händen sanft die Schultern der jungen Frau und hauchte ihr dabei ins Ohr: "Leg doch erstmal ab und fühl Dich ganz einfach wie zuhause, Kleines!" Mit diesen Worten streifte sie behutsam Janes Jacke von ihren Schulterblättern herunter, um kurz danach auch die Arme der jungen Frau aus ihrer stofflichen Ummantelung zu befreien, wodurch die Jacke einfach auf den Teppichboden fiel. Jane ließ all das mit geschlossenen Augen mit sich geschehen. während sie den sanften Atem Cathrins an ihrem Nacken genoß. Wieder berührte die Dame des Hauses sanft ihre Schultern, um sie dann langsam zu sich umzudrehen. Dabei drang der betörende Duft von Cathrins Parfüm in Janes Nase und raubte ihr mit seiner ungeheuren Sinnlichkeit fast den Verstand. Sie spürte erneut jenen inzwischen so vertrauten warmen Atem, dann die Berührung eines Lippenpaares auf ihrer Wange. Und schließlich hörte sie Cathrin flüstern: "Willkommen, kleine Jane! Komm, wir gehen ins Wohnzimmer". Jane öffnete ihre Augen wieder und folgte ihr. Was Cathrin da als Wohnzimmer bezeichnete, war von seinen flächenmäßigen Ausmaßen wohl doppelt so groß wie das, was Jane bis dato ihre Wohnung nennen durfte. Ringsherum an den Wänden hingen dutzende Gemälde, wobei die Kunststudentin in ihr sofort registrierte, daß es sich dabei zweifellos ausschließlich um Originale berühmter zeitgenössischer Kunst handelte, deren Wert sie vom ersten Eindruck her auf etwa 100000 Pfund schätzte. Inmitten des Raumes stand ein großes weißes Sofa, vor dem an einer der Wände zwischen zwei Gemälden ein riesiger Flachbildfernseher hing. Hinter dem Sofa lag auf dem Lamminatfußboden ein weiches Eisbärenfell, das seinen Kopf in Richtung eines großen, offenen Kamins ausstreckte.

Cathrin schlug Jane vor, schon einmal auf dem Sofa Platz zu nehmen, während sie den Kamin anzündete. Die junge Frau folgte dem Vorschlag ihrer Gastgeberin und setzte sich. In ihrem Rücken vernahm sie schon wenige Augenblicke später das Knistern des brennenden Kaminholzes und bemerkte die ersten Anzeichen jener wohligen Wärme, die sein Feuer zu spenden vermochte. Cathrin setzte sich derweil neben Jane auf die Couch. Sie wollte sich endlich einmal ein wenig Zeit nehmen, ihre neue Freundin genauer zu betrachten, so wie sie es einige Stunden zuvor schon im Zug getan hatte. Im leicht gedimmten Licht des elektrischen Kronleuchters, der genau über ihnen von der Decke herunterhing, und dem dezenten Schein des frisch entflammten Kaminfeuers wirkte die junge Schöne sogar noch natürlicher und bezaubernder, als sie es schon bei Tageslicht im Zugabteil getan hatte. Das enge weiße T-Shirt, das sie jetzt trug, betonte Janes ohnehin schon schlanke Figur noch zusätzlich. Außerdem konnte Cathrin darunter sofort erkennen, was ihr bei all der Hektik des überstürzten Umkleidens im Zug gar nicht aufgefallen war - nämlich, daß Jane der Einfachheit halber auf einen BH völlig verzichtet hatte. Cathrin ließ ihren Blick ein wenig tiefer schweifen und bemerkte dabei, daß die dunkelblauen Leggins Janes unglaublich langen Beine erst so richtig zur Geltung brachten. Innerlich begann Cathrin, den Kopf zu schütteln. Eines mußte man diesem Mistkerl Steven schon lassen: Was Frauen anging, hatte er zeitlebens in jeder Hinsicht einen verdammt guten Geschmack gehabt.

Cathrins rechter Zeigefinger wanderte zu einer Haarsträhne, die Jane verwegen ins Gesicht gefallen war, und begann mit ihr zu spielen. Dabei schaute Cathrin der jungen Frau ganz tief in die Augen: "Weißt Du was, Kleines? Ich würd jetzt unheimlich gern erstmal unter die Dusche springen, Du kannst ja inzwischen ein wenig fernsehen. Und wenn Du magst, dann kannst Du danach ein heißes Wannenbad nehmen, während ich uns eine Kleinigkeit zu essen zaubere. Wie fändest Du das?" Ein kleines Lächeln huschte über Janes Gesicht, während sie erwiderte: "Ja, das ist eine gute Idee. Ein Bad und etwas zu essen wäre einfach super!" Cathrin zwinkerte Jane freudestrahlend zu: "Ok, abgemacht". Dann drückte sie noch rasch den Knopf der Fernsehfernbedienung und verschwand ins Badezimmer, aus dem Sekunden später nur noch das sanfte Rauschen des Duschwassers zu vernehmen war. Auf dem Flachbildfernseher flimmerten inzwischen die Bilder der Abendnachrichten über den Schirm: Wirtschaftsminister Bribery überraschend von allen politischen Ämtern zurückgetreten, US-Schauspieler Carlos Bernard als neuer James Bond Darsteller im Gespräch, Arsenal unterliegt ManU mit 2:4 Toren. Jane zeigte sich von all dem wenig beeidruckt, erst bei den Lokalnachrichten erstarrte sie ganz plötzlich. Gebannt lauschte sie der Stimme des Moderators, die verkündete: "In einem Eisenbahnwaggon wurde heute in der Victoria Station die Leiche eines 36jährigen leitenden Bankangestellten italienischer Abstammung entdeckt. Der Mann war mit insgesamt 24 Messerstichen grausam hingerichtet worden. Wahrscheinlichster Hintergrund der Bluttat dürfte nach Angaben des zuständigen Polizeibeamten Inspektor Charles Warnerbee von Scotland Yard die seit Wochen andauernde Privatfehde zweier italienischer Mafiafamilien sein ...".

Jane griff zitternd nach der Fernbedienung und stellte den Fernsehton auf stumm. Dann vergrub sie laut schluchzend das Gesicht zwischen ihren beiden Händen. Mein Gott, was hatte sie nur getan? An ihren zarten Händen klebte das Blut eines Menschen. Das Blut eines Mannes, den sie unendlich lieb gehabt hatte und mit dem sie sich in ihrer geradezu kindlichen Naivität bereits eine gemeinsame Zukunft erträumt hatte. Und nun war dieser Mann tot und zu einer Schlagzeile in den Nachrichten mutiert. Wenn die Polizei den brutalen Mord an Steven Napolitani auch fälschlicherweise der Mafia zuordnete und Cathrin und sie dadurch gar nicht erst unter Verdacht gerieten, so würde doch ihre Seele nie wieder völlig zur Ruhe kommen. Ihr eigenes Gewissen würde sie immer wieder erbarmungslos mit den Bildern ihrer Tat und deren schrecklichen Konsequenzen konfrontieren. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie lange sie imstande war, so etwas auszuhalten. Wie sollte sie nur mit dieser Schuld leben? Konnte man denn so überhaupt noch weiterleben?

Janes Weinen war inzwischen unter der Dusche auch an Cathrins Ohren gedrungen. Ungeachtet ihrer völligen Nacktheit und der Tatsache, daß sie mit ihrem nassen Körper praktisch die halbe Wohnung volltropfte, lief sie eilends zur Wohnzimmercouch und kniete ganz dicht vor Jane nieder, die hemmungslos vor sich her weinte. Ganz fest preßte sie die zitternde Freundin an ihre nackte Brust, dann befreite sie Janes Gesicht aus der Umklammerung der eigenen Hände und bedeckte ihre tränenüberstömten Wangen mit sanften Küssen. Mit dieser wundervoll zärtlichen Behandlung schaffte es Cathrin nach und nach tatsächlich, Jane die schon auf ewig verloren geglaubte innere Ruhe ein Stück weit wiederzugeben. Schließlich ließ Cathrin ihre beiden Arme unter Janes zerbrechlichen Leib gleiten, hob das zarte Geschöpf hoch und trug sie dann ins Bad, wo sie sie langsam auf dem Wannenrand niederließ und vorsichtig zu entkleiden begann, während sie nebenbei heißes Wasser in der Badewanne einlaufen ließ.

Minuten vergingen, dann setzte Cathrin Jane sanft in die Wanne und begann, sie am ganzen Körper intensiv von oben bis unten mit einem nassen Schwamm abzuseifen. Jane genoß die Sanftheit der Berührungen von Wasser und Schwamm und das unglaublich entspannende Gefühl, welches diese in ihr auslösten. Die Entspanntheit versetzte sie schließlich sogar in eine Art wohligen Dämmerzustand, der ihre Augen immer schwerer werden und sie am Ende fast einschlafen ließ. Als sie die Augen dann wieder zu öffnen vermochte, lag sie längst schon wieder auf der Couch, ein Handtuch um den Kopf gewickelt und in einen weißen Bademantel gehüllt. Janes Kopf ruhte auf dem Schoß Cathrins, die in einem Morgenmantel aus feinster roter Seide neben ihr saß und mit geschickten Bewegungen sanft ihre Schläfen massierte. Cathrins Augen lächelten milde: "Schön, daß Du wach bist, kleine Jane.. Weißt Du, Du hast so süß geschlafen. Ich hab zwischendurch schon was zu essen zubereitet für uns zwei. Ich hoffe, Du magst Fisch und Chips?! Und als Beilage vielleicht etwas Gurkensalat?" Eigentlich liebte Jane Fisch in jeglicher Form, aber jetzt löste bereits der Gedanke an irgendetwas Fischartiges einen nie gekannten Brechreiz in ihr aus. Und so sprang sie zu Cathrins Entsetzen auf und rannte, so schnell sie konnte, ins Badezimmer, um sich dort ausgiebig zu übergeben. Ob das vielleicht an den Eiern vom hastigen morgendlichen Frühstück lag oder daran, daß sie seitdem gar nichts mehr gegessen hatte oder an der Tatsache, daß sie die Sache mit Steven im Zug ... sein starrer Blick, sein lebloser Körper und dann überall das Blut ... Noch einmal steckte Jane ihr blaßes Haupt in die Kloschüssel, während sie ganz nebenbei wie aus der Ferne das Läuten des Türgongs vernahm ...

Cathrin hatte im Wohnzimmer rasch ihren Morgenmantel zurechtgerückt und dann die Haustür geöffnet. Vor ihr stand ein älterer, schnauzbärtiger Mann mit Halbglatze. Er zog einen Ausweis aus der Tasche seines abgewetzten Regenmantels und erklärte zeitgleich mit etwas bedrückter Stimme und einem Ausdruck tiefen, ehrlichen Bedauerns im Gesicht: "Misses Cathrin Napolitani, nehme ich an? Mein Name ist Lukas Svensson, Inspektor bei Scotland Yard. Es tut mir leid, aber ich habe leider eine unendlich traurige Nachricht für sie ...". Die Erschütterung, die bei seinen Worten in Cathrins Gesicht Einzug hielt, war noch nicht einmal gespielt. Bis zu diesem Moment hatte sie schließlich noch gar keinen Gedanken daran verschwendet, daß die Polizei über kurz oder lang ja eh bei ihr auftauchen würde, um ihr die Nachricht vom gewaltsamen Ableben ihres Gatten zu überbringen. Doch wieviel wußte dieser Inspektor wirklich von dem, was am frühen Nachmittag dieses Tages in jenem Zugabteil auf der Fahrt nach London geschehen war? War sie nur die Frau des Opfers oder doch auch eine mögliche Verdächtige? Hatte sie vielleicht doch irgendjemand beobachtet beim Ein- oder Aussteigen? Wußte man etwas über Jane? Und wenn ja, verdächtigte man sie eventuell sogar? Und wie würde das noch immer unter dem Schock der Tat stehende Geschöpf auf den unerwarteten nächtlichen Besuch des Kriminalisten reagieren? Und welche Schlüsse würde der Inspektor allein aus ihrer bloßen Anwesenheit ziehen?

Mit einem einzigen Satz riß der noch immer vor der Haustür stehende Svensson die mit einem Male unheimlich blaß gewordene Frau aus ihren sich wild überschlagenden Überlegungen: "Sie erlauben doch, daß ich nähertrete?!" ...

EPISODE 7: MORGENGRAUEN

Die ersten Strahlen der Morgensonne bahnten sich ihren Weg durch die Lamellen der halboffenen dunkelblauen Jalousien vor den Fenstern jenes kleinen Zimmers, in dessen Mitte auf einem vom jahrelangen Gebrauch durchgelegenen Schlafsofa der komplett regungslose Körper des nur noch mit seiner Unterwäsche bekleideten Svensson ruhte. Auf dem weißen Unterhemd des Inspektors zeichneten sich im morgendlichen Licht des jungfräulichen Sonnenscheins in Höhe des Brustkorbes zwei große häßliche blutrote Flecken ab ...

EPISODE 8: KOMMT ZEIT, KOMMT RAD

Der altmodische Wecker auf dem kleinen Nachtschränkchen rasselte, und Svenssons Oberkörper schnellte von seiner Lagerstatt pfeilschnell in die Höhe. 'Mist, dieser Krach kann ja Tote aufwecken!', dachte er, während gleichzeitig ein deutlich vernehmbares Ausatemgeräusch den letzten seiner durch das ständige Schnarchen hervorgerufenen Atemaussetzer dieser Nacht abrupt beendete. Gegenüber an der Zimmerwand bot ihm der angebrachte Spiegel das Gesicht eines verschlafenen und unrasierten Mannes dar, das der Inspektor schon irgendwo einmal gesehen zu haben glaubte. Er konnte in diesem Moment halt nur nicht genau sagen wo. Entweder war es auf dem Foto seines Personalausweises oder aber in der Verbrecherkartei beim Yard gewesen. Svensson kraulte sich nachdenklich das Kinn, wobei seine Finger darüber hinwegkratzten wie über rauhes Sandpapier. Nein, so ein Dreitagebart paßte vielleicht zu diesem Milchbubi Crawler, aber nicht zu ihm. Mit dieser Erkenntnis erhob er sich noch immer ein wenig benommen vom Schlafsofa seines Einzimmerappartments und tippelte sichtlich schlaftrunken über den schmalen Flur seinem noch weitaus weniger geräumigen Badezimmer entgegen, wo ihm - nach einem gezielten, sanften Schlag auf den zugehörigen Lichtschalter - vom Spiegel über dem Waschbecken her dieselbe, noch gänzlich ungepflegte Visage entgegenblinzelte wie schon eben im Wohnzimmer. Seine Hände suchten, fanden und öffneten im nahezu völligen Blindflug die beiden Wasserhähne des Waschbeckens, wodurch sich nur Sekundenbruchteile später unter leisem Plätschern frisch sprudelndes Wasser ins aufnahmebereite Becken ergoß.

Mit einem Male riß Svensson die verschlafen dreinschauenden Augenschlitze weit auf, so daß die immer noch verengten Pupillen nun deutlich hervortraten. Verdammt! Was war denn das da auf seinem Unterhemd? Nicht schon wieder! ... Er mußte endlich einmal damit aufhören, des Nachts zu versuchen, diese breitgedrückten Cheeseburger - die er auf dem mitternächtlichen Heimweg immer aus einem dieser Mc Mickeys Fastfoodtempel zu sich nach Hause mitzunehmen pflegte - dadurch kulinarisch aufwerten zu wollen, daß er einfach Unmengen zusätzlichen Ketchups aus seinem Kühlschrank zwischen die labbrigen Sesambrötchenhälften preßte. Jedes Mal kam es dann nämlich im Halbdunkel seiner Wohnung vor, daß sich ein gewisser Teil seiner "Spezialzutat" quasi verselbständigte und mitten auf seinen Klamotten landete. Svensson streifte das vollgekleckerte Unterhemd mit einem leisen Fluch auf den Lippen kurzerhand über den Kopf und ließ es dann unsanft in den unterm Waschbecken befindlichen Wäschekorb fallen. Hoffentlich bekam sein Waschmittel diese intensivroten Flecken wirklich wieder raus, so wie man es ihm in der zugehörigen Fernsehwerbung bereits hundertfach versprochen hatte.

Svensson drehte dem Wasser im inzwischen bis zum Rand gefüllten Waschbecken den Hahn wieder ab. Dann tauchte er unter und versenkte sein Gesicht einmal kurz im kühlen Naß, um gleich danach eine ausgiebige lauwarme Dusche zu nehmen. Anschließend ließ er die Zahnbürste in kreisenden Bewegungen über sein Gebiß gleiten und rückte auch noch seinem Stoppelbart mittels Rasierschaum und Naßrasierer zu Leibe. Und auch der Kamm streifte noch rasch ein-zwei-mal die letzten verbliebenen Haare auf seinem Kopf, bevor Lukas es schlußendlich wagte, seinem Spiegelbild erneut gegenüberzutreten. Wie jeden Morgen nach einer derartigen Grundüberholung seines Antlitzes war der Inspektor auch diesmal wieder geradezu verblüfft, wie einem so ein paar einfache "Reinigungsarbeiten" das Gefühl geben konnten, auf Anhieb zehn Jahre jünger auszusehen. Und nach einem weiteren sanften Schlag auf den Lichtschalter kehrte Svensson in sein kombiniertes Wohn-Schlaf-Zimmer zurück, wo er sich zielsicher ein neues Unterhemd, eine dunkelblaue Boxershort, ein frisches weißes Oberhemd und eine beigefarbene Anzughose aus dem Schrank angelte, in welche er anschließend seinen Luxuskörper in knapp zweiminütiger Bestzeit versenkte. Im Flur warteten bereits seine schwarzen Lederhalbschuhe und sein geliebter Trenchcoat auf ihn, aus dessen rechter Tasche er beim Verlassen der Wohnung noch rasch den Wohnungstürschlüssel hervorkramte.

Der Schlüssel drehte sich zweimal im Schloß, dann schritt der Insektor gemächlich die Treppen der vier Stockwerke bis zum Innenhof hinunter, wo er mittels eines kleinen Schlüssels in seiner linken Manteltasche die Handschellen löste, mit denen er bei seiner nächtlichen Heimkehr stets den Rahmen seines Fahrrades an einem ausrangierten Müllcontainer anzuketten pflegte. Mit einem kühnen Schwung des linken Beines begab er sich auf den Sattel des dienstbaren Gefährts und lenkte sein Rad in Richtung Hofausfahrt. Mit vorschriftsmäßigem Handzeichen und prüfendem Doppelblick nach rechts und links bog er auf die - selbst um diese Uhrzeit bereits recht stark befahrenen - Straßen der Londoner Innenstadt ein, als ein leises Zischen unter ihm ein paar Sorgenfältchen in sein sonst so entspanntes Gesicht trieb. Svensson sprang von seinem Drahtesel ab und schaute ahnungsvoll nach seinem Hinterreifen, dem langsam aber sicher die Luft auszugehen schien. Sein Blick schweifte weiter zurück und erspähte schließlich das Scherbenmeer einer achtlos weggeworfenen Bierflasche, das seinem Schlauch kurz zuvor offensichtlich den unter die Gummihaut gehenden, todbringenden Stich versetzt hatte. Der Inspektor atmete erst einmal ganz tief durch, dann lehnte er sein Rad kurzerhand gegen die Häuserwand und zog zwei gefütterte Winterhandschuhe aus seinen beiden Manteltaschen hervor, die er sich überstreifte und mittels denen er sorgsam Scherbe für Scherbe vom Boden auflas, um seine Sammlung dann flinken Fußes dem Glascontainer im Innenhof zuzuführen. Schließlich sollte doch nicht noch ein morgendlicher Radler Opfer jenes Scherbenhaufens werden, oder?! Svensson klopfte seine Handschuhe noch einmal kurz aneinander aus, bevor er sie wieder in seinen Manteltaschen verschwinden ließ. Er ging zurück zu seinem Rad und schob es ein Stück weit die Straße entlang, bis er ein kleines hellerleuchtetes Gebäude erreichte, dessen grellgelbe Neonschrift über der Tür strahlend und dabei ein wenig vor sich her summend verkündete: "JACKS 24 HOURS A DAY".

Der Besitzer des zugehörigen Ladens, der sich als eine Art Rund-um-die-Uhr-Autowerkstatt verstand, kam stirnrunzelnd auf Svensson zugelaufen und zwinkerte dem Inspektor schließlich zu, während er ihn gleichzeitig wie einen alten Freund mit festem Handschlag begrüßte: "Guten Morgen, mein Lieber! Wenn ich Sie so auf mich zuschleichen sehe, dann brauch ich weder Hellseher noch Kriminalist zu sein, um zu wissen, was die Stunde geschlagen hat. Einem Ihrer Rädchen ist mal wieder die Puste ausgegangen, oder?!" Svensson nickte schmunzelnd: "Ich glaube, Jack Holmes, Sie sollten anstelle von diesem Lackaffen Wannabe mit mir beim Yard arbeiten. Ihre Kombinationsgabe und Ihr Gespür übertreffen die seinen um Längen ... Ja, es hat mich mal wieder erwischt". Holmes winkte nur milde ab: "Keine Sorge, Chef, das haben wir in Nullkommanix". Und damit winkte er seinen Lehrling zu sich, der bis zu diesem Zeitpunkt wenige Meter entfernt knieend an der Ölwanne eines Ford Mustangs herumgeschraubt hatte. "Luigi", begann Jack Holmes seine Ansprache an den Jungen, "Du läßt mal für ein paar Minütchen das 'Ami-Pferdchen' links liegen und kümmerst Dich stattdessen um den kranken Hinterhuf dieses 'Eselchens', capito?!". Luigi nickte verstehend, auch er wurde schließlich nicht das erste Mal mit dem morgendlichen Hilfegesuch des sympathischen Inspektors konfrontiert. Der Lehrling schnappte sich das ungewöhnliche Polizeifahrzeug und schob es in den hinteren Teil der Werkstatt, während sein Chef den befreundeten Polizeibeamten inzwischen in seine Teeküche einlud. Die beiden Männer nahmen an einem kleinen wachstuchbedeckten Tisch Platz und nutzten die Zeit, die die Reparatur des Fahrrads beanspruchte, für eine gemeinsame Tasse heißen Kaffee und ein Gespräch unter guten alten Bekannten.

"Wie gehts Ihrer Tochter, mein Freund?", eröffnete Holmes die Unterhaltung und schaute dabei seinem Gegenüber tief in die Augen. "Ach, wissen Sie, Jack, seit meine Frau Nina und ich uns vor zwölf Jahren entgültig getrennt haben, seh ich meine kleine Lisa nur noch selten. Sie ist mit ihren 16 Jahren ein ganz wundervolles junges Mädchen, eine erstklassige Schülerin und eine famose Geigenspielerin noch dazu. Alle ein bis zwei Monate kommt sie mich in meiner kleinen Wohnung besuchen. Dann reden und lachen wir zusammen, und für ein paar Stunden kehrt sozusagen ein wenig buntes Familienleben in meine grauen vier Wände ein". Beim letzten Satz strahlte Svensson bis über beide Ohren. "Sagen Sie mal, mein Guter, haben Sie früher eigentlich nie überlegt, selbst um das Sorgerecht für Ihre Lisa zu kämpfen?", hakte Holmes ein wenig nach. "Ja, mit dem Gedanken gespielt hab ich sicher mal, wie jeder alleinstehende Vater es wohl tut. Aber ich hab ihn ebenso rasch wieder verworfen, wie er aufkam. Ein Kind braucht schließlich seine Mutter. Wer weiß das besser als ich, der ich selbst jahrelang in einem Heim aufgewachsen bin, ohne Eltern und Großeltern. Ohne Wurzeln und familiäre Bezugspersonen sozusagen". Das Strahlen war aus den Augen des Inspektors verschwunden. Alles, was sie in diesem Moment ausstrahlten, war Bedrücktheit und eine schier endlose Traurigkeit. Jack Holmes hatte das natürlich sofort wahrgenommen und versuchte daher rasch, das Gesprächsthema zu wechseln: "Mal ganz was Anderes. Was macht eigentlich die Arbeit? Gibt es was Spannendes?" "Ja, da gibt es tatsächlich einen Fall, der mich ziemlich beschäftigt. Ein leitender Angestellter einer Privatbank wurde in einem Zugabteil brutal ermordet", berichtete der Inspektor kurz und sachlich. Und Holmes ergänzte: "Ach ja, der aus den Abendnachrichten. Aber meinte Ihr Kollege nicht, die Sache sei ziemlich klar und ginge wohl auf die Kappe dieser beiden Mafiosifamilien mit den merkwürdigen Nudelsortennamen?" Svensson schüttelte energisch sein Haupt: "Ja, aber ich glaub, da steckt was ganz anderes dahinter. Dieser Steven Napolitani war eigentlich ein viel zu kleines Licht für diese Spirellis und Makkaronis. Die geben sich viel lieber mit den richtigen Chefs solcher Bankhäuser ab. Und dann hab ich da gestern am späten Abend noch die Witwe dieses Mannes aufgesucht. Eigentlich ja nur, um ihr die traurige Nachricht vom Tod ihres Gatten zu überbringen. Wissen Sie, Jack, ich hasse das, und dennoch hab ich mich freiwillig dazu gemeldet. Denn allein der Gedanke, daß dieser seelische Eisberg Wannabe von unserem Boss Freakadelly, seinem Schwiegerpapa in spe, auf die arme Frau losgelassen werden könnte, bereitete mir schon innerlich ein mulmiges Gefühl. Wie dem auch sei, so traf ich jedenfalls gestern spätabends in einer prunkvoll eingerichteten Vorstadtvilla auf eine zutiefst erschütterte Frau ..." "Aber es ist doch absolut normal, daß man zutiefst erschüttert ist, wenn man als liebende Ehefrau mit einer solch schrecklichen Nachricht konfrontiert wird, oder?!", wandte Holmes um Verständnis ringend ein. Der Inspektor nickte nachhaltig: "Ja, natürlich ist es das. Aber dennoch! Die Art der Erschütterung war, meinem Bauchgefühl nach, eher die einer Tatverdächtigen als die der Ehefrau eines Opfers. Und das war bei weitem noch nicht alles, was mich irgendwie stutzig werden ließ. Ich machte nämlich nur eine Minute später die Bekanntschaft einer jungen Dame, die ich in ihrer Beziehung zu den Napolitanis auch nach der sich anschließenden einstündigen Unterhaltung mit beiden Frauen nicht wirklich einzuordnen vermag. Also, diese junge Frau namens Jane ist Kunststudentin an einer Kunsthochschule in Manchester. Sie zog an just dem Tage im Hause der Napolitanis ein, in dessen Verlauf Steven Napolitani ermordet wurde. Und das, obwohl Cathrin Napolitani, besagte Ehefrau des Ermordeten, sie gerade erst zufällig kennengelernt hatte. Die junge Studentin sei ihr während eines Einkaufsbummels eben auf den ersten Blick sympathisch gewesen, man sei ins Gespräch gekommen, und da Jane sehr ärmlich in einer kleinen Kammer unter dem Dach wohne, habe sich Cathrin direkt entschlossen, ihr den Gästebereich ihrer riesigen Villa zur Untermiete anzubieten. Und dabei hatten sich beiden Frauen bis zu meinem Besuch noch nicht einmal auf einen festen Mietpreis geeinigt". Der Werkstattbesitzer bemühte sich sichtlich um eine plausible Erklärung: "Ja, wissen Sie, manchmal haben doch solche wohlhabenden Damen einen Anflug von Mildtätigkeit. Dann spenden sie mal eben eine Million für gefährdete Tierarten oder sponsorn von ihrem Geld einen jungen Schauspieler, der ihnen imponiert. Vielleicht geht das Ganze ja in die Richtung?!". Svensson allerdings ließ sich seine mühsam angehäuften Zweifel so leicht nicht nehmen: "Klar, daran hab ich auch gedacht. Aber da war immer noch mehr ... Dieses zarte, junge Geschöpf, das den Toten angeblich ja gar nicht gekannt hatte, wirkte auf eigenartige Weise noch viel erschütterter als die Ehefrau. Und zuletzt war da dann noch die ganze Art, wie die beiden Frauen in dieser extrem emotionalen Situation miteinander umgingen. So zärtlich und sanft. Und immer wieder dieses verstohlene Händchenhalten der Beiden, vor allem, wenn sie sich von mir unbeobachtet wähnten. So, als würde die Zwei ein kleines, schmutziges Geheimnis verbinden. Ich kann Ihnen das leider nicht genauer erklären. Sie müßten es eben mit eigenen Augen gesehen haben ..."

In diesem Augenblick erschien Jacks Lehrling Luigi im Türrahmen und verkündete freudig: "Das drahtige Eselchen ist wieder wie neu. Der Herr Inspektor kann getrost auf dem Dienstwege fortfahren". Svensson stand zügig auf. Dann zog er seine alte silberne Taschenuhr aus der Manteltasche hervor, ließ den Deckel aufspringen und konstatierte ein wenig kopfschüttelnd: "Na, nun aber los! Es ist ja schon halb 6 durch, und spätestens um 6 Uhr will ich an meinem Schreibtisch im Yard sitzen. So hab ich wenigstens einen kleinen Vorsprung vor diesem Wannabe und seiner allein seligmachenden Mafia-Theorie". Eilig verabschiedete er sich per Händedruck von Lehrling und Meister, wobei er sich gleichzeitig dutzende Male bedankte und dann noch heimlich eine Zehn-Pfund-Note im Schlitz der auf der Teeküchenanrichte bereitstehenden Spardose versenkte, bevor er sich wieder voller Elan auf sein Rad schwang und im gemütlichen Tempo eines typischen Sonntagsfahrers in Richtung Scotland Yard entschwand ...

EPISODE 9: ERWACHENDE GEFÜHLE

Um Jane herum war alles dunkel und leer. Nur durch die Glasscheibe eines einsamen Fensters fiel ein blasser Fetzen Licht auf ihr Gesicht. Es war, als versuchte ihr dieser schwache Schein den Weg aus dem Dunkel zu weisen. Sie trat einen Schritt zu auf das Fenster und bemerkte, daß es von außen dick mit Eisblumen besetzt war. Plötzlich drang ein leises schabendes Geräusch in der sonst so gespenstischen Stille des Raumes an ihr Ohr. Das Geräusch rührte von der Außenseite jener Glasscheibe her. Ein zierliches Zeigefingerchen kratzte mit kreisenden Bewegungen ein immer größer werdendes Loch in die Geschlossenheit der eisigen Blütenpracht und brachte so nach und nach ein vertrautes Gesicht zum Vorschein: Es war Cathrin, die da draußen in der Kälte stand und ihr zuwinkte. Jane sah genau, wie sich dabei Cathrins Lippen bewegten, aber sie konnte leider kein Wort von dem Gesagten verstehen. Sie drehte sich um, und ihre Augen - die sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt zu haben schienen - erkannten nun endlich auch, wo sie sich befand. Es war eben jener Eisenbahnwagen, in dem sie von einer unschuldigen Kunststudentin mit einem Schlag zur Mörderin geworden war. Panik erfaßte sie. Sie wollte nur noch eins: So schnell wie möglich weg hier! Jane rannte aus dem Abteil in Richtung Ausgangstür. Doch mit jedem Schritt, den sie lief, schien ihr der Gang nur immer noch länger zu werden. Und plötzlich trat aus einem der seitlich gelegenen Abteile eine dunkle Gestalt heraus und verbaute ihr den Fluchtweg. Jane stoppte abrupt und stand der Erscheinung nun direkt gegenüber. Ihr Körper zitterte, in ihren Augen spiegelte sich das blanke Entsetzen. Um Himmel willen: Es war Steven - ihr Stevie, Cathrins Mann. Aus seiner zerstochenen Brust tropfte pausenlos das Blut auf den Gang. Und seine kalten Augen starrten scheinbar durch sie hindurch, während sein eisiger Mund ihr Ohr berührte und ihr mit leiser zittriger Stimme zuflüsterte: "Du wirst mich niemals los! Ganz tief in Dir ist etwas von mir, das bleiben und Dich ständig an mich erinnern wird! Mit jedem Tag wächst es und sorgt dafür, daß ich auf ewig ein Teil Deines Lebens sein werde - jede Stunde, jede Minute und jede einzelne Sekunde vom Rest Deiner Erdentage. Auf immer - Du und ich, Stevie und Jane ...". Und wie ein unheilvolles Echo hallte es dumpf in ihren Ohren nach: "Jane, Jane, Jane ...".

"Jane, Jane ... Wach doch auf, Jane, Kleines! Beruhige Dich, das war doch alles bloß ein böser Albtraum!". Jane schlug die Augen auf und blickte sich ängstlich um. Ihr goldgelber Bärchenpyjama war schweißdurchtränkt, und auch auf ihrer Stirn spürte sie die perlenden Schweißtropfen. Wie ein Häufchen Elend lag sie zusammengekauert mit angezogenen Beinen ganz am Rande des großen Futondoppelbettes im riesigen Napolitanischen Schlafzimmer, welches bereits die ersten hellen Sonnenstrahlen warm zu durchfluten begannen. Neben ihr saß Cathrin und tupfte ihr sachte mit einem Zellstofftuch die feuerroten Wangen und die feuchte Stirn. Die andere Hand strich dabei gelichzeitig beruhigend über Janes Oberarm auf und ab. Jane lehnte ihren Kopf vorsichtig an Cathrins Schulter. Sie genoß die Wärme und die Geborgenheit, die die reife Frau mit jeder ihrer einfühlsamen Berührung und jedem ihrer ruhigen Worte ausstrahlte. Wie wunderbar mußte es sein, von solch einer Frau geliebt zu werden? Was für ein Gefühl war es wohl, solch einem bezaubernden Wesen im Rausch der Lust begegnen zu dürfen? Wie um alles in der Welt konnte man so ein liebevolles Geschöpf nur hintergehen und betrügen? Was um Himmels willen hatte sich ihr Mann nur dabei gedacht?

Jane sah Cathrin ganz tief in ihre leuchtenden bernsteinfarbenen Augen. Ja, diese Augen waren wahrlich wie Edelsteine. Und hinter ihnen versteckte sich zweifellos ein Herz aus purem Gold. Cathrin war einfach rundum ein wahres Schmuckstück - atemberaubend schön und unbezahlbar. Und die Risse, die das Leben ihr bereits versetzt hatte, machten sie nur noch einzigartiger, wertvoller und vollkommener. Cathrins Daumen berührte wie zufällig Janes Lippen, die sich unter seinem Druck leicht öffneten. Cathrin zog ihre Hand reflexartig wieder zurück, was Jane nur mit einem leichten Augenzwinkern beantwortete, bevor sie der zärtlichen Freundin zuflüsterte: "Ich würde Dich jetzt unheimlich gern küssen, liebste Kate!". Nun wich auch Cathrins Körper spürbar ein wenig zurück, während sie sichtlich um Fassung und die richtigen Worte rang. Sekundenlanges Schweigen folgte, schließlich erwiderte Cathrin: "Weißt Du, Jane, ich glaube, das möchte ich irgendwie auch. Ich weiß nicht wieso, aber ganz tief in mir drin wollte ich das schon, als ich Dich zum ersten Mal gesehen habe - gestern in dem Zug. Und dennoch fürchte ich mich vor diesem letzten entscheidenden Schritt. Himmel, wie soll ich das nur erklären?!". Cathrins Augen glitzerten wäßrig, während ihre Pupillen sich von Janes Blick befreiten und in Richtung der Decke flüchteten - als ob sie sich bei dem, was sie sagen wollte, heimlich Hilfe von oben erhoffte. Stattdessen kam jene Hilfe nun unerwarteterweise aus ganz anderer Richtung. Janes Zeigefinger legte sich nämlich zeitgleich über Cathrins Lippen, während die Studentin ihrer Gastgeberin zuhauchte: "Ist schon gut, sag nichts mehr. Niemand will Dich zu irgendetwas drängen, ich am allerwenigsten. Nimm mich einfach noch einmal ganz fest in Deine Arme und dann laß uns frühstücken gehen! Ich hab nämlich einen Bärenhunger". Mit diesen Worten preßte sie sich ganz fest an Cathrins Körper, der sich unter derem figurbetonenden himmelblauen Seidennachthemd formenreich abzeichnete, und schloß sie dabei liebevoll in beide Arme. Und die so Engumschlungene reagierte darauf mit einer ebenso intensiven Umarmung Janes, in der beide Frauen dann etwa eine Minute lang verharrten, bevor Jane unvermittelt aus dem Bett und unter die Dusche sprang, während Cathrin in der Küche für ihren Gast und sich schon das ungewöhnlich üppige Frühstück zubereitete.

Jane schien das morgendliche Duschen sehr zu genießen, denn erst nach knapp einer Dreiviertelstunde kam sie aus dem Bad in die Küche gelaufen und setzte sich sofort ohne zu zögern an die Stirnseite des reich gedeckten Frühstückstisches. Cathrin, die sich gerade mit der Kaffeekanne in der Hand zu ihr umgedreht hatte, blieb mit einem Male wie angewurzelt stehen und wurde kreidebleich. Jane bemerkte das sofort, sprang auf die Freundin zu und fragte besorgt: "Was ist denn plötzlich los mit Dir, Kate? Geht es Dir nicht gut?". Cathrin löste sich aus ihrer Erstarrung und schüttelte wie in Zeitlupe ihren Kopf: "Nein, nein ... alles ... alles in Ordnung! Es war nur ... es ist nur ... das ist ... ich meine, das ... das war immer ... sein ... naja der Platz von meinem ... von Steven, weißt Du?!". Eine verstohlene Träne kullerte über ihre Wange. Eine Träne, die nur Sekundenbruchteile später eine entfernte Verwandte bekam - auf der Wange Janes, deren Kopf sich im selben Moment schlagartig gesenkt hatte, und die nun leise vor sich her schluchzte: "Aber das ... das hab ich ja nicht gewußt und ... und schon gar ... gar nicht ... gewollt! Es tut mir so leid ... so schrecklich ... leid!". Wieder versanken beide Frauen in eine wohltuende, sich gegenseitig Halt gebende, innige Umarmung, in der sie erneut minutenlang verharrten. Dabei versuchten sie mit ihren behutsamen Händen gegenseitig, sich die Tränen vom Gesicht zu wischen. Endlich atmete Cathrin einmal tief durch und sprach: "Ok, genug geheult! Dein ganzes schönes Makeup verläuft ja schon wieder. Jetzt wird gegessen, sonst wird noch alles kalt. Und kalter Kaffee soll zwar schön machen, aber schmecken tut er jedenfalls grauenvoll!". Und damit hatte sie es geschafft, jenes bezaubernde Lächeln in Janes Gesicht zurückzuzaubern, das sie schon bei ihrem Kennenlernen so fasziniert hatte.

Jane schnaubte sich noch einmal lautstark mit einem Tempotaschentuch ihr Näschen, dann setzte sie sich an einen der Seitenplätze des Tisches und blickte staunend auf all die Leckereien, die Cathrin darauf zusammengetragen hatte. Auf einem Teller ruhte ihr Blick besonders intensiv, wobei sie wie ein kleines Kind wild in die Hände klatschend feststellte: "Au fein, Bratkartoffeln! Und Schokopudding hast Du auch! Das ist ja wie Weihnachten und Ostern zusammen. Weißt Du, Kate, bei meiner Granny, wo ich aufgewachsen bin, gab es samstags immer Bratkartoffeln mit Schokoladenpudding". Sie sah zu Cathrin herüber und registrierte dabei den leicht angewiderten Ausdruck in deren Gesicht, wodurch sie sich zu einer weiteren Erläuterung genötigt sah: "Ja, das hört sich vielleicht ein wenig abartig an, aber glaub mir, das ist übelst lecker!". Und damit beförderte sie auch schon eine riesige Portion Bratkartoffeln auf ihren Teller, nur um sie eine Sekunde später mit einer ebenso großen Ladung Pudding zuzuschütten. Jane verrührte das Ganze eifrig, um es anschließend genüßlich zu verdrücken. Cathrin mußte unweigerlich lächeln. Na, hoffentlich wurde ihr davon am Ende nicht wieder übel wie gestern Abend ...

EPISODE 10: IM ZUGE EINES JUBILÄUMS

Das Hartgummiprofil eines gemächlich vor sich her rollenden Reifens durchquerte auf dem - in der Morgensonne glänzenden - Kopfsteinpflaster eine mittelgroße Pfütz. Dabei teilte sich das zugehörige Wasser gleichmäßig nach beiden Seiten. Jeden bibelfesten Beobachter vermochte der Anblick dieser Szene wohl sofort an jene alttestamentliche Geschichte erinnern, in der Mose beim Auszug seines Volkes aus der ägyptischen Gefangenschaft mit Gottes Hilfe das Rote Meer teilte, so daß seine Landsmänner allesamt trockenen Fußes ans andere Ufer gelangen konnten, während die sie verfolgenden Ägypter anschließend in den wieder zusammenströmenden Wasserfluten qualvoll ertranken. Svensson, dessen Fahrradreifen es war, der dieses Wunder soeben erfolgreich wiederholt hatte, schaute noch einmal hinter sich und erblickte dabei einen kleinen Mistkäfer. Dieser hatte wohl im Schutze des Fahrradreifens ebenfalls auf eine erfolgreiche Durchquerung der Pfütze gehofft, und nun drohte ihn das Schicksal der alttestamentlichen Ägypter zu ereilen. Dabei stellte sich der Inspektor gedanklich vor, der Mistkäfer sei sein Kollege Wannabe, und mußte unweigerlich schmunzeln. Wenn er allerdings ein wenig länger darüber nachdachte, tat ihm dieser unangemessene Vergleich schon wieder ein wenig leid - schließlich wollte Svensson ja niemanden ernsthaft beleidigen ... vor allem nicht den armen, unschuldigen Mistkäfer.

Einen Moment später zeugte Svenssons deutliches Handzeichen von der Absicht, mitsamt seinem Rad eine Richtungsänderung zu vollziehen. Und bereits eine Sekunde danach ging es von der Victoria Street scharf nach rechts ab, wo in einer Seitenstraße ein paar Meter weiter eine Inschrift auf dem goldenen Schild einer Einfahrt verkündete: "New Scotland Yard". Es folgte ein Schlagbaum, vor dem der Inspektor per Rücktritt sogleich eine Vollbremsung der Meisterklasse hinlegte. Svensson nahm die Füße von den Pedalen und stützte gleichzeitig seine Ellenbogen geduldig wartend auf der Lenkstange ab. Dabei begann er, andächtig die britische Nationalhymmne vor sich her zu summen. Und wenn er auch bei seiner eigenwilligen Interpretation ein paar der Töne leicht verfehlte, so trat ihm dabei dennoch eine kleine verstohlene Träne ins linke Auge ... die er allerdings als gestandener Mann sofort innerlich der Tatsache zuschob, daß sein Augapfel wohl bei dem - seiner Meinung nach - rasanten Fahrstil ein wenig Zug abbekommen haben könnte.

Aus dem Wärterhäuschen hinter dem Schlagbaum war inzwischen ein großer, stattlicher Mann in Polizeiuniform herausgetreten und hatte sich vor dem Inspektor und seinem Drahtesel aufgebaut. Die Mundwinkel des Wachmannes umspielte dabei der leichte Ansatz eines Grinsens, als er mit verbissenem Blick, tiefer Baßstimme und gespielt türkischem Akzent ausrief: "Ey Alder, Du kummst hier net rein!". Wieder mußte Svensson schmunzeln, dann erwiderte er: "Yusuf, laß den Scheißendreck! Läßt Du mich rein und guckst Du weita!". Yusuf tat, wie ihm geheißen, und öffnete den Schlagbaum, so daß der Inspektor auf seinem Fahrrad passieren konnte. Der drehte sich nach ein paar Metern noch einmal um, zwinkerte verschmitzt und rief seinem - sich inzwischen wieder ins Wärterhäuschen zurückbegebenden - Freund lautstark zu: "Schönen Gruß an Aisha und Euren Stammhalter! Wenn ich Sonntag Zeit habe, dann komm ich mal wieder zum Essen vorbei".

Ein paar Minuten später hatte Svensson bereits seinen fahrbaren Untersatz am Gitterstab eines der Kellerfenster jenes 20-stöckigen Gebäudes angekettet, das sich nun im Schein der aufgehenden Sonne so majestätisch vor ihm erhob. Wie an jedem Morgen in den vergangenen zehn Jahren stieß der Inspektor auch diesmal einen kleinen andächtigen Stoßseufzer aus, bevor er bedächtig die 36 Stufen zum Haupteingang hinaufschritt. Das Foyer war um diese Uhrzeit noch relativ menschenleer. Nur der Beamte am Empfang hauchte Svensson ein leises "Guten Morgen, Inspektor" entgegen, welches dieser in seiner gewohnt freundlichen Art erwiderte, wobei er es sich natürlich nicht nehmen ließ, in einem Nebensatz nachzufragen: "Und, George, eine ruhige Nacht gehabt? Hast Du gestern noch das Spiel gesehen? Arsenal hat sich trotz des 2:4 ganz tapfer geschlagen, oder?!". Und der so Befragte erwiderte nickend: "Auf alle drei Fragen ein klares Ja!". Svensson, der inzwischen den Fahrstuhl betreten hatte, erhob noch einmal rasch die Hand zum Gruß - dann schloß sich die Tür und zu den wachmachenden Tönen von Gloria Gaynor's "I Will Survive" ließ sich der Inspektor stimmungsvoll "liften" - in den 12. Stock, wo sich sein Büro befand, direkt unter jenem seiner Kollegen Wannabe und Crawler.

Die Leuchtschrift im Fahrstuhl zeigte eine rote Zwölf, dann öffnete sich mit zarten Glockenton die Aufzugstür, und Svensson trat auf den roten Teppich des Flurs. Von hieraus waren es nun nur noch ein paar Schritte bis zu seiner Bürotür mit der Nummer 1214. Die Fahrstuhltür schloß sich hinter ihm wieder, wodurch nun auch Frau Gaynor verstummte und den monotonen Geräuschen jenes Staubsaugers wich, mit dem eine junge anmutige Reinigungskraft in ihrem hellblauen Arbeitskittel gerade den Flur vom Staub der vergangenen Nacht befreite. Svensson schlängelte sich vorsichtig an ihrem gefräßigen, lärmenden Blechmonster vorbei. Und als die junge Dame für einen Moment aufschaute, rief er ihr ein freundliches "Einen wunderschönen, streßfreien Guten Morgen, Yelena" entgegen, welches sie in gebrochenem Englisch erwiderte: "Ihnen auch ein Gutes Morgen, Sir Svens Sohn! Und nicht zuviel arbeiten, wenn geht! Sie wissen, Arbeit machen viel Falten. Das nicht gut für schönes Mann wie Sie! Und Karriere nicht alles im Leben!". Lächelnd winkte der Inspektor ab: "Keine Sorge, Yelena! Die Karriere machen hier eh andere. Ich bin hier, um mich um Kriminalfälle zu kümmern und um die menschlichen Schicksale, die damit verbunden sind. Mein Anliegen ist es, für Gerechtigkeit zu sorgen, die Täter in den Knast zu bringen und den Opfern beizustehen". Yelena nickte eifrig mit dem Kopf: "Das sein gutes Aufgabe! Und Sie sein gutes Mensch!". Svensson errötete ein wenig, dann sagte er: "Tja, nur leider gehöre ich mit dieser Lebensphilosophie in diesen altehrwürdigen Hallen einer langsam aussterbenden Art an. Unsere Zeit gehört den Machtmenschen, die ihre Ellenbogen ausfahren und mit dem starken Arm des Gesetzes das Recht beugen und brechen, nur um damit auf der Karriereleiter eine Sprosse nach oben zu klettern - ohne jeden Anflug von Skrupel". Bedeutungsvoll wies Svensson mit erhobenem Zeigefinger zur Decke: "Und der da oben schaut allzuoft tatenlos zu!". Yelenas Gesicht verdunkelte sich plötzlich, auch sie erhob nun ihre Hand, allerdings nur, um sich damit eilends vor ihrer Brust zu bekreuzigen: "Sie doch nicht etwa Gott meinen?!". Svensson mußte lächeln: "Nein, um Himmels Willen! Ich meine damit Freakadelly, meinen Chef. Der Glaube an Gott und sein allzeit gerechtes Handeln ist an vielen Tagen das Einzige, was mir meine Hoffnung und meine Lebensfreude zu bewahren vermag, wie traurig und ungerecht mir auch alles erscheint - Nein, teuerste Yelena! Gott kann man nicht die Schuld für das Unrecht auf der Welt geben, diese Schuld tragen wir Menschen ganz allein. Für das, was wir aus dem uns von unserem Schöpfer anvertrauten, so kostbaren Gut unseres Lebens machen, dafür ist ein jeder von uns selbst verantwortlich! Machen Sie das Beste daraus, so wie ich es auch versuche - jeden Tag aufs Neue!". Mit diesen Worten verabschiedete sich der Inspektor mit einem liebevoll angedeuteten Handkuß von der Reinigungskraft und schritt gemächlich weiter den Flur entlang, bis er schließlich an seinem Büro ankam. Er zog sein Schlüsselbund aus dem Mantel und öffnete damit die Tür. Svensson trat ein und schloß die Tür hinter sich wieder. Dann atmete er einmal tief durch und lauschte gespannt. Ah, das monotone Rauschen des Staubfressers auf dem Flur war nicht mehr zu hören. Gott sei Dank! Stille, endlich Stille! Svensson pellte sich aus seinem Mantel, den er dann behutsam auf den bereitstehenden Garderobenständer hing und anschließend noch einmal glattstrich. Schließlich ließ er sich hinter seinem Schreibtisch vorsichtig in seinen Bürostuhl gleiten, holte aus der Schreibtischschublade seine Lesebrille hervor und setzte sie sich auf seine Nase. Er nahm sein Telefon zur Hand und wählte die Nummer des Kellerarchivs. Einige Sekunden vergingen, dann meldete sich am anderen Ende der Leitung eine grelle Frauenstimme: "Moin, Moin! O'Brien am Apparat! Sie wünschen bitte!". Svensson paßte rasch den Abstand zwischen dem Hörer und seinem Ohr der Stimmgewalt seiner Gesprächspartnerin an, dann erwiderte er: "Hi, Carla! Ich bin's, Inspektor Svensson aus 1214. Könnten Sie mir da mal ein paar Vorgänge raussuchen ... Zum einen alles, was wir über eine gewisse Cathrin Napolitani und ihren Mann Steven Napolitani haben. Und dann bitte auch, was es über eine Kunststudentin aus Manchester namens Jane ... Moment, wo hab ich denn noch gleich den Zettel mit dem Nachnamen der jungen Frau? ... Gestern hatte ich ihn doch noch! ... Vielleicht im Mantel?! ... Moment ...". Svensson ließ den Hörer sinken und begab sich an den Garderobenständer zu seinem Mantel, wo er eifrig alle Taschen durchkramte, während vom Telefonhörer ein leises Kreischen zu vernehmen war: "Lukas. Lukas?! Was machen Sie eigentlich schon wieder so früh im Büro? Haben Sie kein Zuhause? ... Sie immer mit ihren tausend Zettelchen und ihrem Notizblock! Und nie finden Sie etwas, wenn Sie es suchen! ... Sind Sie noch dran? Hallo! Halllooo?!". Der Inspektor hatte inzwischen fürs erste die Suche nach der verschwundenen Notiz aufgegeben. Er begab sich zurück in seinen Stuhl, und nahm dann in aller Ruhe Hörer und Gespräch wieder auf: "Hallo, Carla?! Ich lasse Ihnen den Namen der anderen jungen Frau später zukommen. Ich kann ihn grad nicht finden! Aber es wäre wirklich nett von Ihnen, wenn Sie mir die anderen Akten schon mal hochkommen lassen könnten. Danke, und einen zauberhaften Tag noch! Ende!" Damit legte Svensson auf.

Auch wenn ihre gewöhnungsbedürftige Stimme einen stets aufs Neue erbeben ließ, auf Carla war Verlaß. Eine Viertelstunde später brachte ein Praktikant aus dem Archiv auf einem kleinen Wägelchen stapelweise Akten in Svenssons Büro und knallte sie ihm auf den Schreibtisch. Dann bat er den Inspektor noch um eine Unterschrift, und schon war er wieder verschwunden. 'Meine Güte', dachte Svensson bei sich, 'das ist ja eine Menge Lesestoff'. Doch es half nichts, er arbeitete sich bis zur Mittagspause im Schnellverfahren durch die Aktenberge. Dabei entdeckte er zufällig bei einem Griff in die Brusttasche seines Oberhemds dann auch den verschollenen Notizzettel mit dem vollständigen Namen der Kunststudentin Jane wieder, deren Akten er daraufhin ebenfalls noch bei Carla O'Brien im Archiv anforderte.

Mittags schaute dann unverhoffterweise auch Sergeant Crawler in Svenssons Büro vorbei. Eigentlich verirrten sich Wannabe und sein Schoßhündchen eher selten in jenes untere Gefilde - und wenn doch, dann bedeutete das meist nichts Gutes. Crawler war jedenfalls ganz aufgeregt und hechelte dem Inspektor förmlich entgegen: "Sir Wannabe und meine Wenigkeit speisen heute im Restaurant Fika in der Brick Lane zu Mittag. Die haben eine hervorragende schwedische Küche dort. Und wir dachten, wir nehmen Sie zur Feier des Tages einfach mal dahin mit, wo ihre Vorfahren doch aus Schweden stammen?!". Svensson sah kurz von seinem Platz hinter dem Schreibtisch auf, runzelte die Stirn und schaute Crawler ein wenig mitleidig an: "Also erstens hab ich wohl schon hundertmal gesagt, daß meine Eltern und ich aus Deutschland stammen und nicht aus Schweden. Ihr über allen Dingen stehender direkter Vorgesetzter nennt mich ja nicht umsonst immer ein wenig spöttisch hinter vorgehaltener Hand 'V1' oder auch 'Hitlers etwas verspätete Wunderwaffe, die das Königreich' - und ich zitiere Mister Wannabe frei aus dem Gedächtnis heraus - 'erst einschläfern und dann durch die Übertragung seiner ansteckenden Zerstreutheit und Verwirrtheit völlig zerrütten soll'. Also, was soll der ganze Blödsinn mit der Einladung und was heißt hier überhaupt 'Feier des Tages'? Ist Wannabe vielleicht plötzlich und unerwartet suspendiert worden, oder was hätte ich da mit Euch Beiden wohl zu feiern?". Crawler grinste schmierig: "Netter kleiner Joke, Svensson! Aber nein, im Gegenteil! Sir Wannabe steht direkt vor seiner Traumhochzeit mit der bezaubernden Tochter unseres einzigartigen Chefinspektors und gleichzeitig auch noch vor der - wenn Sie mich fragen - lange fälligen Beförderung zum Chefinspektor. Und damit wird er dann endgültig nicht nur mein, sondern vor allem auch Ihr Chef! Angesichts dieser Tatsache wäre wohl ein kleinwenig mehr Respekt von Ihrer Seite angebracht, oder?!". Svensson mußte sich innerlich immer mehr zügeln, damit ihm nicht der Kragen platzte angesichts von so viel hochmütiger Überheblichkeit. Doch nach außen blieb er ruhig und gelassen und meinte nur: "Wissen Sie, Crawler, wenn Sie Respekt sagen, dann meinen Sie doch sowas wie 'in den Hintern kriechen', oder?! Nun, ich glaube, dafür bin ich dann doch etwas zu alt und ungelenkig. Und außerdem ist in jener besagten Körperöffnung von Mister Wannabe dank Ihres geradezu übereifrigen Engagements eh nur noch recht wenig Platz". Crawler rang ein wenig um die richtigen Worte, aber dann entschloß er sich, die letzte Bemerkung Svenssons einfach großzügig zu übergehen: "Was jedenfalls das Angebot bezüglich des gemeinsamen Restaurantbesuchs betrifft: Einladen wollten wir Sie eigentlich eh nicht, gezahlt hätte da jeder für sich ... Sir Wannabe dachte halt nur, weil sie doch heute Ihr 10-jähriges Dienstjubiläum feiern ... und wer weiß, ob Sie nächstes Jahr um diese Zeit überhaupt noch unter uns weilen. Vielleicht verlassen Sie uns ja auch ganz plötzlich und übernehmen ein paar leichtere, Ihrem Alter und Ihrer Intelligenz angemessenere Aufgaben in einer etwas idyllisch gelegeneren Umgebung außerhalb der großen Städte mit all ihrer schädlichen Reizüberflutung ...".

Svensson hatte nun keinen Restaurantbesuch mehr nötig, denn er war schon jetzt mehr als bedient. Sein rechter Zeigefinger wies mehr als deutlich zur Tür, als er mit recht energischem Gesichtsausdruck meinte: "Raus! Und sagen Sie Ihrem Mister Wannadingsda, er kann mich mal ... und zwar heute nachmittag über die neusten Erkenntnisse im Fall Napolitani unterrichten. Das heißt, wenn es ihm seine ausgedehnten Restaurantbesuche auf Steuerkosten und seine Hochzeitsvorbereitungen während der Dienstzeit überhaupt noch zeitlich gestatten!". Damit versenkte Svensson seinen Kopf wieder in die vor ihm liegenden Akten und registierte zufrieden, wie sich seine Bürotür mit lautem Knall schloß. Die Zufriedenheit wurde allerdings noch einmal kurz getrübt, als Crawler einen Moment später den Kopf erneut einer Schlange ähnlich durch die Bürotür steckte, um gleich darauf loszuzischen: "Das Wichtigste hätte ich ja beinahe vergessen. Der Chefinspektor wünscht Sie nach Feierabend in seinem Büro zu sehen. Vielleicht gibt es ja schon heute an ihrem Ehrentag die Goldene Uhr zum Abschied?! Mein Chef und ich würden es Ihnen gönnen ...". Noch ehe Svensson etwas erwidern konnte, war Crawlers Kopf auch schon wieder verschwunden, und die Bürotür fiel erneut geräuschvoll ins Schloß.

Der Inspektor arbeitete sich noch eine Viertelstunde durch die inzwischen eingetroffene Akte Jane. Dann entschloß er sich doch zu einer kleinen Mittagspause. Am Haupteingang traf er zufällig auf Yelena, die gerade Feierabend machen wollte. In ihrem rotgepunkteten Sommerkleid und mit den offenen Haaren sah sie noch viel bezaubernder aus als sonst in ihrer himmelblauen Arbeitskluft. Und ihr unbeschwertes Lächeln strahlte dabei sogar noch heller, als es die heiße Mittagssonne vermochte. Svensson trat an sie heran und fragte: "Sagen Sie, teuerste Yelena, hätten Sie vielleicht Zeit und Lust, mit mir eine Kleinigkeit essen zu gehen? Ich habe heute nämlich mein 10-jähriges Dienstjubiläum und würde mich sehr freuen, wenn Sie mir dazu die Ehre gäben, mir Gesellschaft zu leisten". Yelena sah den Inspektor einen Moment lang etwas überrascht an, dann erwiderte sie: "Aber gern, Mister Svens Sohn. Das sein wahnsinnig nett von Sie. Wo wir gehen hin?". Svensson lächelte verschmitzt und tat gleichzeitig ein wenig mysteriös: "Lassen Sie sich überraschen!". Fünf Minuten später konnte man die Beiden sich ausgelassen unterhaltend und immer wieder lauthals lachend am Hot-Dog-Stand des nahegelegenen Parks beobachten. Und in einem Punkt war sich Svensson absolut sicher: So eine kurzweilige und unterhaltsame Mittagspause hätte er in Gesellschaft von Wannabe und Co nie und nimmer genießen können ...

EPISODE 11: ENDSTATION EINER UNSCHULD

Die Mittagssonne stand hoch am Himmel, nur der Hauch eines Lüftchens sorgte bei all der sich ausbreitenden Hitze auch für ein wenig Abkühlung. Francesca lief in ihrem strahlendweißen Sommerkleidchen ganz ungezwungen neben ihrem Vater her. Mit ihren rosa Kniestrümpfen und den schwarzen offenen Halbschuhen an ihren Füßen sah sie fast aus wie eine kleine Disneyprinzessin. Dabei schienen ihre großen leuchtendblauen Augen alle Eindrücke in ihrer Umgebung mit geradezu kindlicher Naivität in sich aufsaugen zu wollen. Sie konnte einfach nicht genug bekommen von all den, im leichten Windzug langsam vor sich hin schwebenden Wolken, den herrlich bunten Blumen auf der Wiese, den in den Baumwipfeln zwitschernden Vögeln und dem ausgelassenen Lachen der Kinder auf einem nahegelegenen Spielplatz. Und zwischendurch schilderte sie ihrem Papa immer wieder mit einem unbeschwerten, fröhlichen Lächeln auf den Lippen, was sie wahrnahm und wie wunderbar dieser Tag doch sei. Überhaupt war sie ganz aufgeregt. Schließlich hatten sie Onkel Salvatore das letzte Mal gesehen, als sie 7 Jahre alt war - das war inzwischen schon wieder 9 Jahre her. Francesca erinnerte sich gern an die Besuche bei dem netten Herrn, der sie immer bei sich auf dem Schoß sitzen lassen und ihr dabei wundervolle Märchen aus 1001 Nacht erzählt hatte. Außerdem hatte sie, während der sympathische Onkel und ihr Papa im Haus wichtige geschäftliche Dinge beredeten, auf dem Hof mit all den Kindern der zahlreichen Dienerschaft herumtoben können. Und wenn sie sich dann nach etwa einer Stunde wieder von Onkel Salvatore verabschiedet hatten, durfte sie immer noch einmal tief in sein Bonbonglas greifen und sich eine Handvoll Drops für den Heimweg mitnehmen. Beim letzten Besuch hatte ihr Onkel Salvatore sogar eine wunderschöne Puppe geschenkt mit langen blonden Haaren, mit der sie noch einige Jahre gespielt hatte, und die noch heute einen Ehrenplatz auf dem Regal in ihrem Zimmer hatte.

Diese Puppe war es auch, der sie abends beim Schlafengehen immer all ihre geheimsten Gedanken anvertraute. In der letzten Zeit berichtete sie ihr vor allem von einem gewissen Marco, der in ihrer Schule zwei Klassenstufen über ihr war und in den sie ein ganz kleinwenig unsterblich verliebt war. In der Disco hatte er sie letzten Samstag sogar auf eine Cola eingeladen und sich dann fast eine Stunde lang mit ihr unterhalten. Er hatte mit ihr getanzt und sie gegen 21 Uhr sogar den ganzen Weg bis nach Hause begleitet. Nur als er sie beim Einbiegen in ihre Straße kurz vor der Ankunft an der elterlichen Wohnung um einen kleinen Abschiedskuß auf die Wange bat, hatte sie schüchtern den Kopf geschüttelt und gemeint, daß ihr das einfach zu schnell ginge und sie lieber noch etwas warten würde. Klar hatte sie Angst gehabt, ihr Marco könnte ihr das übelnehmen und nichts mehr von ihr wissen wollen. Aber der hatte ganz toll reagiert - er hatte ihr mit dem Handrücken behutsam über die Wange gestreichelt und ihr dann ins Ohr gehaucht: "Ist schon ok, wir haben doch alle Zeit der Welt!". Und sie? Sie hatte einfach nur glücklich gelächelt und ihm zum Abschied zugeflüstert: "Dankeschön! Du bist süß!".

Ihrem Papa hatte sie diese Geschichte freilich nicht erzählt. Der machte sich eh immer viel zu viele Sorgen, daß jemand von diesen pubertierenden Kerlen seinem kleinen Schatz zu früh das unschuldige Herz brechen könnte. Er wollte sie stets vor all dem Bösen dieser Welt bewahren, und dafür hatte sie ihn ja auch unheimlich lieb. Aber ihre Erfahrungen auf dem Weg vom Mädchen zur Frau mußte sie letztendlich nunmal doch ganz allein machen. Das gehörte einfach zum Leben dazu, wenn man später auf eigenen Füßen stehen wollte. Ob ihr Papa das wohl jemals einsehen würde?! Sie schaute zu ihm herüber. Irgendetwas schien ihn zu bedrücken. Der Kopf des sonst so lebenslustigen 42jährigen sah betrübt und starr auf den Gehweg, seine Schultern hingen schlapp an seinem gebeugten Oberkörper herunter. Was er wohl hatte? Vielleicht hing es mit den Geldsorgen zusammen, über die er sich neulich spätabends in der Küche leise mit Mama unterhalten hatte?! Francesca versuchte, ihn ein wenig aufzumuntern und ergriff dazu seine Hand. Dann hauchte sie ihm einen Kuß auf die sorgenfaltige Stirn, als könnte sie ihm damit die düsteren Gedanken einfach wegpusten. Ach ja, so war sie ... so herrlich erfrischend unschuldig.

In diesem Moment trafen Vater und Tochter vor dem Haupttor des gigantischen Anwesens ein, das Francesca in ihrer Kindheitserinnerung sogar noch riesiger vorgekommen war. Ihr Papa unterhielt sich kurz mit einem der beiden schwerbewaffneten Wachmänner, die mit ihren schicken Maßanzügen und den verspiegelten Sonnenbrillen vor dem Tor postiert waren. Dann sprach der Wächter in sein Funkgerät: "Seniore Spirelli, Alberto Scampi und seine Tochter Francesca sind am Haupttor und wünschen, Sie zu sprechen!". Im Funkgerät knackte es, dann meldete sich aus dem Lautsprecher eine tiefe, feste Männerstimme: "Si, si, schick die Beiden zu mir rein! Ich erwarte sie schon sehnsüchtig". Nur Sekunden später setzte sich das schwere, gußeiserne Rolltor in Bewegung, und Francesca und ihr Vater betraten das Grundstück. Der Weg zur Villa führte die Beiden durch eine Parkanlage mit viel Rasenfläche. Am Rande des breiten Sandweges, über den sie dabei liefen, standen rechts und links herrlich duftende Fliedersträucher. Francesca sog mit ihrer Nase den intensiven Geruch in sich ein. Dabei stubste sie ihren Vater von der Seite her an: "Herrlich, Papa, oder?!". Alberto Scampi erhob kurzzeitig sein Haupt, und für einen Moment umspielte sogar ein kleines Lächeln seine Mundwinkel: "Ja, mein Schatz! Wirklich herrlich!". Und das Mädchen strahlte über das ganze Gesicht, während sie ausrief: "Na siehst Du, Papa, Du kannst ja doch noch lachen. Jetzt wird das bestimmt noch ein ganz toller Tag, oder?!". Alberto konnte nur staunen über soviel bewundernswerte Naivität: "Ja, ich hoffe es, Kleines!".

Nach einigen Schritten waren sie an der Villa angelangt. Hinter einem lustig plätschernden Springbrunnen führte eine große Steintreppe zum vorderen Eingang des Haupthauses, vor dem zwei weitere Posten mit Maschinenpistolen Wache hielten. Einer von ihnen sprach auch hier in sein Funkgerät, und einen Augenblick später erschien ein Herr um die Sechzig in der Tür, breitete einladend seine Arme aus und lächelte den Eingetroffenen zu: "Alberto, mein Freund! Schön, daß Du endlich einmal den Weg zu mir gefunden hast. Und mein Patenkind hast Du auch gleich mitgebracht?! Bongiorno, Francesca! Tretet doch näher, Ihr Zwei!". Francesca rannte dem lieben Onkel freudig entgegen, während ihr Vater schweren Schrittes jede Stufe der langen Treppe einzeln nahm, so als wolle er das Wiedersehen mit seinem Geschäftsfreund Spirelli unbedingt noch ein wenig hinauszögern.

Salvatore Spirelli hatte Francesca inzwischen bereits in seine Arme geschlossen und preßte sie dabei ganz fest an sich heran. Dann umfaßte er mit seinen starken Händen ihre zierlichen Schultern und beugte seinen Oberkörper ein wenig zurück, um sie näher betrachten zu können: "Meine Güte, groß bist Du geworden, cara mia. Schon fast eine richtige Frau! Wie wäre es denn mit einem Begrüßungskuß für den Onkel Salvatore?". Francesca hauchte ihm - ohne lange zu zögern - im Überschwang der Wiedersehensfreude sogleich einen zarten Kuß auf die Wange, aber Spirelli schüttelte nur den Kopf: "Aber, aber, Bella Donna! Das ist doch keine Art, seinen allerliebsten Onkel zu küssen, den man solange nicht mehr gesehen hat, oder?!". Und ohne eine Antwort abzuwarten, zog er das überraschte Mädchen wieder fest an sich heran und drückte ihr seine trockenen Lippen auf den jungfräulichen roten Mund. Sein Atem, der stark nach Alkohol roch, drang in ihre Nase, während sich sein Mund leicht öffnete und seine feuchte, klebrige Zunge über ihre Lippen leckte. Francesca ekelte sich ganz plötzlich vor dem alten Mann und entzog sich seinem Griff. Spirelli sah sie an und lachte laut auf: "Ah, das Fräulein ist noch ein wenig schüchtern, wie? Naja, ist ja auch richtig so. In Deinem Alter sollte man sich für den richtigen Moment aufsparen, Francesca! ... Stimmt doch, Alberto, oder?!". Vater Scampi, der inzwischen auf der obersten Stufe angekommen war, nickte kurz und streckte dem alten Geschäftsfreund dann ein wenig abwartend seine Hand entgegen. Spirelli ergriff sie und klopfte Scampi mit der anderen auf die Schulter: "Warum so förmlich, alter Freund? Kommt nur herein! Ich bin gerade beim Mittagessen. Wollt Ihr mir dabei nicht ein wenig Gesellschaft leisten? Es gibt zartes, junges Hühnchen. Wißt Ihr, ich liebe junges, knuspriges Fleisch!". Ein Grinsen kehrte in Spirellis Gesicht ein und verlieh ihm damit in Francescas Augen etwas Beängstigendes. Und obwohl sie - da sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte - irgendwie schon ziemlich hungrig war, schüttelte sie nur eingeschüchtert den Kopf. Auch ihr Vater lehnte die Einladung dankend ab: "Vielen Dank, Salvatore, aber wir haben schon gegessen!".

Eine Minute später standen Francesca und ihr Vater vor der überreich gedeckten Tafel im Eßzimmer der Villa, während Spirelli an der Stirnseite saß und mit vor Fett triefenden Fingern schmatzend ständig größere Stücke zarten Hühnerfleisches in seinen Mund stopfte. Zwischendurch wischte er seine schmierigen Hände immer wieder an der bereitliegenden Serviette ab, trank einen großen Schluck Rotwein und grinste seine beiden Gäste an. Dabei war es Francesca keineswegs entgangen, daß sie der "liebe Onkel" von oben bis unten mit dem gleichen hungrigen Blick seiner weit aufgerissenen, giftgrünen Augen musterte, wie er es einen Moment zuvor noch mit dem Hühnchen auf seinem Teller getan hatte. Nach etwa einer Viertelstunde hatte er endlich sein ausschweifendes Mahl beendet und bot nun Vater Scampi den gegenüberliegenden Platz an seiner langen Tafel an. Francesca wollte sich gerade neben ihren Vater setzen, als Spirelli erneut grinsend den Kopf schüttelte und meinte: "Francesca, Kleines! Du sitzt natürlich wie früher auf Deinem Lieblingsplatz - bei Onkel Salvatore auf dem Schoß!" Voller Unbehagen ging sie auf den alten Mann zu und ließ sich langsam auf seinen Knien nieder. Sie zitterte dabei am ganzen Körper, während sie seinen feuchten, warmen Atem in ihrem Nacken spürte. Spirellis Knie begannen leicht zu wippen, so als ob er wie früher mit ihr "Hoppe hoppe Reiter" spielen wollte. Gleichzeitig aber wandte er sich an ihren Vater: "So, nun zum Geschäftlichen, mein Lieber! Zu meinem Bedauern mußte ich vernehmen, daß Du ein wenig mit Deinen Raten bei mir hinterherhinkst, Alberto. Das ist nicht gut, gar nicht gut! Du weißt ja, ich brauche das Geld! Ich hab doch selber viele Ausgaben, und da kann ich mir längerfristig einfach keine Außenstände leisten! Aber wir finden da sicher eine Lösung, zwei alte Bekannte wie wir?!". Scampi sah sein Gegenüber mit fragendem Blick an: "Salvatore, ich kann Dir die 12000 Pfund momentan leider nicht zurückgeben. Weißt Du, ich hatte in letzter Zeit ein wenig Pech. Die Miete ist mal wieder gestiegen, und ich hab meinen Job verloren. Und dann noch die Herzoperation meiner Frau Rosa im vergangenen Jahr. Die hat auch viel Geld gekostet. Ich könnte Dir aber erstmal 800 Pfund besorgen, und vielleicht kannst Du mir ja den Rest stunden?!". Spirelli nickte mitleidig: "Ja, das ist alles schlimm, das verstehe ich! Aber mit Deinen 800 Pfund kommen wir nicht weiter. Das ist keine Lösung für unser Problem, weißt Du?! Ich denke, wir sollten mal in aller Ruhe unter vier Augen darüber weiterreden ... Francesca, wenn Du uns einen Augenblick entschuldigen würdest?!".

Francesca sprang mit einem Satz vom Schoß Spirellis auf. Sie hoffte, nun endlich dieser, für sie unheimlich unangenehmen Situation zu entkommen: "Au ja, fein! Kann ich nach draußen in den Park, Onkel Salvatore?". Doch Spirelli schüttelte wieder den Kopf: "Geh doch lieber einen Moment nach nebenan in den kleinen Salon. Meine Zofe Claudine zeigt Dir den Weg". Der Hausherr rief eine junge schwarzhaarige Frau zu sich heran, die mit gesenktem Haupt und dem Munde ihres Herrn zugeneigtem Ohr dessen zugeflüsterte Anweisungen entgegennahm. Dann führte sie Francesca durch eine Schiebetür in einen kleinen, verstaubten Nebenraum, in dessen Mitte als einziges Inventar ein breites Metallbett stand. Die Zofe wies mit ihrem Zeigefinger auf die einsame, schmutzige Lagerstatt und meinte: "Seniore Spirelli bittet Euch, es Euch dort schon ein wenig bequem zu machen und Euch ein wenig auszuruhen, während die Herren ihre Unterhaltung pflegen. Der Leibwächter von Seniore wird inzwischen an der Tür darauf achten, daß Ihr Euch hier ungestört ausruhen könnt". Damit betrat ein muskelbepackter Herr mit Anzug und Sonnenbrille den Raum, postierte sich unmittelbar vor der Schiebetür und grinste Francesca an. Das Mädchen senkte den Blick und ließ sich in ihrem weißen Kleid ratlos auf der Matraze des laut knarrenden Bettes nieder.

Im Eßzimmer war Spirelli inzwischen auf den Punkt gekommen: "Hör zu, Alberto, mein Freund! Ich sehe das so: Mit Deinen armseligen Einkünften allein wirst Du Deine riesigen Schulden bei mir nie zurückzahlen können. Also müssen wir ein anderes Zahlungsmittel finden. Vermögenswerte hast Du keine! Aber vielleicht hast Du ja etwas anderes zu bieten, was für mich von Interesse sein könnte. Siehst Du, und das bringt uns direkt zu Francesca, Deiner Tochter! Schließlich hab ich Dich ja nicht umsonst gebeten, sie bei unserem kleinen freundschaftlichen Treffen mitzubringen. Ihre Anwesenheit hat mir schon früher stets die Nachmittage zu versüßen vermocht. Warum sollte man aus so einer Perle wie ihr keinen Gewinn schlagen? Ich habe da in Übersee extrem betuchte Leute, die für eine so unschuldige Schönheit ein Vermögen hinblättern würden. Und auch hier gibt es ein paar Geschäftspartner von mir, die sich - genau wie ich - nach anstrengenden abendlichen Geschäftsverhandlungen nach der bezaubernden Gesellschaft einer blutjungen Gespielin sehnen, mit der sie den Abend erfolgreich und ein wenig ausgelassen ausklingen lassen können. Also, um nicht lang um den heißen Brei rumzureden: Ich werde Deine kleine Francesca jetzt nebenan zur Frau machen. Und mal sehen: Wenn sie sich recht geschickt anstellt, dann erlaß ich Dir schon für dieses Mal Deine kompletten Schulden, mein Bester! Ansonsten vereinbaren wir im Anschluß eben eine Ratenzahlung über weitere Besuche. Und wenn ich sie dann wie gesagt noch weitervermitteln oder gar verkaufen kann, dann springen für Dich und Deine Frau locker weitere 20000 Pfund raus, denke ich mal! Na, wie bin ich zu Dir?! Und falls Du Dir Sorgen machst, weil sie ja Dein einziges Kind ist?! Du und Deine Rosa, Ihr seid doch noch jung. Sicher könnt Ihr immer noch ein Kind haben. Naja, und für den Fall, daß es bei Dir nicht so klappt mit dem Zeugen: Ich oder mein Leibwächter Giovanni helfen da sicher gern aus, schick doch Deine Rosa einfach mal vorbei!". Die Augen von Vater Alberto blitzten wutentbrannt auf. Die Hände, die Scampi während Spirellis schmutzigen Ausführungen sicherheitshalber in die Hosentaschen verbannt hatte, ballten sich dort langsam zu Fäusten und drängten aus ihrer stofflichen Umklammerung in das Gesicht des skrupellosen Mistkerls. Doch der handelte vorausahnend und zog blitzschnell einen Revolver aus der Innentasche der Jacke seines Nadelstreifenanzugs hervor: "Nicht, daß Du auf dumme Gedenken kommst, mein Lieber! Eine Bewegung, und Deine süße Francesca ist auf einen Schlag Halbwaise. So, und nun geh ich mal rasch zu ihr. Sonst kommt unser Engel sich noch ganz vernachlässigt vor". Damit begab er sich - den Revolver im Anschlag - auf die Schiebetür zu und öffnete sie. Dann übergab er seinem Bodyguard Giovanni die Waffe und beorderte ihn zu Vater Scampi, um ihn in Schach zu halten, während er sich mit dem Mädchen "beschäftigte". Spirelli schloß die Schiebetür hinter sich und ging breitgrinsend zum Bett mit der ängstlich zitternden Francesca.

Vater Scampi spürte den eiskalten Lauf der Waffe an seiner Schläfe. Er hörte vom Nebenraum unendlich viele Geräusche: Das Schluchzen und Weinen seiner Tochter, das teuflische Lachen und Stöhnen Spirellis, immer wieder einzelne Schläge und Schreie und das eintönige, furchtbare Knarren des Metallbettes. Wie in Trance durchlebte der Vater das Geschehen. Am Ende konnte er nicht einmal sagen, wie lang das Ganze gedauert hatte ... eine halbe Stunde, vielleicht auch zwei Stunden?! Alles, an was sich Scampi später erinnern konnte, war: Irgendwann öffnete Spirelli breit über das ganze Gesicht grinsend die Schiebetür wieder, während er gleichzeitig geradezu provokatorisch den Reißverschluß seines Hosenstalls schloß. Er sog mit den Lippen an seinem Arm, an dem er einige blutige Kratzer davongetragen hatte: "Eine richtige Wildkatze, unsere kleine Bella Donna. Sei stotz auf sie, sie hat sich ganz tapfer geschlagen und Onkel Salvatore eine recht angenehme Zeit bereitet. Nun ist sie eine kleine Frau, Dein unschuldiges Mädchen! Ich denke mal, für die komplette Schuldsumme war das Ganze noch nicht ausgereift genug, aber die Hälfte hat sie auf jeden Fall damit schon mal abgegolten. Vielleicht bringst Du sie mir ja am kommenden Sonntagabend nochmal vorbei. Da geb ich einen kleinen Empfang. Dann kann ich das süße Ding auch gleich mal meinen Geschäftspartnern und ein paar eventuellen späteren Kaufinteressenten vorstellen, weißt Du? Und wenn die Gäste weg sind, dann vergnüg ich mich zur kompletten Schuldentilgung einfach noch einmal mit ihr!". Damit gab er für Scampi den Blick auf das Bett frei, auf dem Francesca - verängstigt und am ganzen Körper mit roten und blauen Flecken übersät - nur in Slip und Hemdchen hockte, während sie mit zitternden Händen nach ihrem ehemals so unschuldig weißen Kleidchen griff, das nun zerrissen und beschmutzt in einer der staubigen Ecken des schmalen Zimmers lag. Und so wie dieses Kleid sah es auch in ihrer kleinen armen Seele aus: Die Reinheit und Unschuld waren für immer dahin, stattdessen fühlte sie sich äußerlich beschmutzt und befleckt und innerlich zerrissen.

Spirelli gab seinem Bodyguard ein kurzes Handzeichen, dann zogen sich beide ohne ein weiteres Wort ins Wohnzimmer der Villa zurück. Die Zofe Claudine erschien wieder und begutachtete das Laken auf der Matratze, auf dem ein großer Blutfleck deutlich sichtbar das Ende von Francescas Unberührtheit verkündete. Vater und Tochter saßen sich noch eine Weile völlig regungslos gegenüber, dann stand Francesca von dem Bett auf, warf sich jenen Fetzen, der einmal ihr strahlendweißes Sommerkleid gewesen war, über den schmerzenden, geschändeten Leib und schlich schwerfälligen Fußes aus dem Nebenraum durch die Schiebetür ins Eßzimmer. Dort ging sie an ihrem immer noch erstarrt dasitzenden Vater vorbei und lief hinaus über die Treppe in den Park. Hier blieb sie am Springbrunnen stehen und wusch sich lange und ausgiebig die Tränen aus ihrem verweintes Gesicht. Irgendwann spürte sie die Hände ihres Vaters auf den Schultern, die ihr schützend seine Anzugjacke überstreiften. Dabei hauchte er ihr ein tränenersticktes "Verzeih mir, Francesca! Bitte verzeih mir doch!" ins Ohr. Sie drehte sich zu ihm um und schaute ihm sekundenlang in sein bleiches Gesicht, dann schüttelte sie den Kopf: "Tut mir leid, Papa! Aber das kann ich nicht! Noch nicht! Vielleicht auch nie mehr!".

Damit drehte sie sich von ihm weg und begann, immer schneller werdenden Schrittes - ohne auch nur ein einziges Mal nach rechts und links zu schauen - den Sandweg zum Haupttor entlangzulaufen. Scampi versuchte noch eine Zeitlang, seiner Tochter zu folgen, aber irgendwann gab er diese Absicht deprimiert auf. Er hatte sie aus den Augen verloren ... verloren ... und das nicht nur für den Moment. Nein, an diesem schrecklichen Nachmittag hatte er seine Tochter vermutlich für immer verloren! Ja - und auch, wenn sie ihm das Geschehene jemals vergeben könnte, er selbst würde es sich wohl nie verzeihen können ...

EPISODE 12: PENDELVERKEHR

Unter dem Einfluß der wärmenden Sonnenstrahlen begann das Eis langsam zu schmelzen und bahnte sich fast unmerklich den Weg von seiner knusprigen Waffelhülle hinunter auf Svenssons rechte Hand, von wo es dann in regelmäßigem Abstand in kleinen zähflüssigen Perlen zu Boden tropfte. Yelena, die sich auf ihrem gemeinsamen Rückweg durch den Park längst bei dem Inspektor untergehakt hatte, entging die Tatsache jenes langsamen Flüssigkeitsverlustes bei ihrem Begleiter allerdings nicht - und so flüsterte sie ihm schließlich leise ins ihr zugewandte Ohr: "Svens Sohn Lukas, mein Lieber, Du tropfen da etwas. Ich vielleicht einmal kurz bei Dich lecken sollen?!". Svensson mußte schmunzeln. Nein, nicht darüber, daß Yelenas Grammatik ein wenig ungewöhnlich war, denn das fand er irgendwie inzwischen schon richtig süß an ihr. Er war sich vielmehr der schlüpfrigen Zweideutigkeit bewußt geworden, die in ihrem letzten Satz verborgen war - und solche kleinen Zweideutigkeiten mochte er nunmal unheimlich gern. Und so streckte er seiner charmanten Begleiterin ohne zu zögern die rechte Hand mit der - in Auflösung begriffenen - Eiswaffel entgegen, an der sie nur Sekundenbruchteile später bereits mit flinker Zunge zu schlecken begann. Dabei befreite sie mit geschlossenen Augen auch gleich die betroffenen Stellen an Svenssons Zeige- und Mittelfinger von deren eisbreiigen Überläufern, wobei ihr ein genüßliches "Hmmh, fkusnui!" entfuhr. Svensson, dessen frühere Lebensgefährtin Nina - die Mutter seiner Tochter Lisa - selbst auch eine gebürtige Russin war, verstand die russische Sprache ganz gut und wußte, daß jenes "fkusnui" übersetzt nichts anderes bedeutete als "lecker". Und wenn er die Frau an seiner Seite so betrachte, wie sie in ihrem luftigen Sommerkleid - dessen Ausschnitt ihm übrigens in dieser Situation recht angenehme Einblicke zu gewähren vermochte - verschmitzt lächelnd mit leicht geschlossenen Augen zu ihm herübergebeugt ihre Zunge sachte an seiner Hand auf und abfahren ließ, dann geriet er fast schon in Versuchung, auch sie in ihrer ganzen Art als "fkusnui" zu bezeichnen. Als es ihm schließlich Minuten später endlich wieder für einen Moment gelang, seine Augen von Yelenas reizvollen Anblick zu lösen, bemerkte er, daß sie im Gehen den Stadtpark längst hinter sich gelassen hatten und wieder vor jenem großen 20-stöckigen Gebäude angelangt waren, welches ihrer beider Arbeitsstätte war. Yelena, die darüber genauso überrascht schien wie der Inspektor, bedankte sich bei Svensson noch rasch für das Essen und die wundervolle gemeinsame Zeit. Und der Insektor gab der Reinigungskraft außer Dienst zum Abschied einen zärtlichen Kuß auf den Handrücken. Dann trennten sich ihre Wege fürs erste. Svensson begab sich zurück in sein Büro, und Yelena machte sich mit der Londoner U-Bahn auf den Heimweg in ihre Einzimmerwohnung am Stadrand - wobei sich beide noch mehrfach nacheinander umsahen.

Bei seiner Rückkehr ins Büro stellte der Inspektor zu seinem Erstaunen fest, daß auf dem Schreibtisch an seinem, ihm stets so unheimlichen, elektronischen Organiser eine signalrote Leuchtdiode in regelmäßigen Abständen immer wieder wild aufflackerte. Svensson begab sich hinaus auf den Flur und bat eine der gerade vorbeikommenden Sekretärinnen mit zu sich ins Büro. Dann deutete er fragend auf das blinkende Etwas: "Liebes Fräulein Sabrina, können Sie bitte mal nachsehen, ob da irgendeine Nachricht für mich drauf ist?". Das herbeigerufene "Fräulein" war ein wenig überrascht - zum einen über die merkwürdige typisch deutsche Anrede und zum anderen über den eigentümlichen Wunsch des Inspektors. Dennoch zögerte sie nicht, dem stets charmanten Svensson zu helfen. Die im Umgang mit modernster Kommunikationstechnik hinreichend geschulte Frau drückte in Windeseile ein paar Tasten und streckte dem Inspektor den Organiser dann freudestrahlend wieder entgegen, auf dessen Display nun blau auf grau folgende Notiz aufleuchtete: "Svensson! Crawler hat mich informiert, daß Sie bezüglich der neusten Erkenntnisse im Mordfall Napolitani von mir gebrieft werden möchten. Ich bin mir allerdings sicher, diese Unterredung hat noch Zeit bis nach ihrem Termin mit dem Chefinspektor, wenn sich ein derartiges Gespräch nicht dadurch überhaupt ganz und gar erledigen sollte. - Inspektor Wannabe". Svensson bedankte sich vielmals bei Sabrina, die sich daraufhin lächelnd verabschiedete und das Büro wieder verließ. Der Insektor aber schüttelte den Kopf. Warum wußten schon wieder einmal alle noch vor ihm selbst von seinem Termin beim Chef, und was sollte diese dämliche Bemerkung von diesem eingebildeten Schnösel Wannabe: "... wenn sich ein derartiges Gespräch nicht dadurch überhaupt ganz und gar erledigen sollte".

Der Inspektor warf einen kurzen Blick auf die Uhr an der Wand seines Büros, deren kleiner Zeiger direkt auf die Eins zeigte, während der große Zeiger einmal mehr gerade die Zwölf erklommen hatte. Es waren also noch genau vier Stunden bis zum Feierabend und damit bis zu seinem Termin bei Freakadelly. Genug Zeit, um noch ein wenig mehr Licht in paar Unklarheiten bezüglich Jane, jener frischgebackenen Untermieterin im Hause der frischverwittweten Frau des ebenso frisch dahingemeuchelten Herrn Napolitani, zu bringen. Und so griff Svensson erst zu Janes Akte und dann zum Telefonhörer und ließ sich im Anschluß nacheinander mit mehreren Teilnehmern in Manchester verbinden. Er telefonierte mit den Professoren an der Kunsthochschule und auch noch mit verschiedenen Mitstudentinnen von Jane. Während der einzelnen Gespräche machte er sich immer wieder Notizen auf bereitliegenden Notizzetteln und in sein kleines schwarzes Notizbuch, das er stets in einer seiner Manteltaschen bei sich zu tragen pflegte. Als er den Telefonhörer schließlich endlich wieder auf die Telefongabel zurückgleiten ließ, zeigte die Wanduhr schon zwei Minuten vor fünf. Svensson schnellte von seinem Bürosessel hoch, griff sein Notizbuch und seinen Mantel vom Garderobenständer und verließ sein Büro, welches er noch rasch hinter sich abschloß. Dann begab er sich schnellen Schrittes zum Fahrstuhl und fuhr damit zwei Stockwerke höher zum Büro mit der Nummer 1421, wo er bereits von Chefinspektor Freakadelly erwartet wurde.

Der Chefinspektor wies auf einen der bereitstehenden Stühle. Svensson nahm Platz, und Freakadelly begann milde lächelnd mit seinen Ausführungen: "Mein sehr verehrter Inspektor Svensson! Wie lange kennen wir zwei uns jetzt schon? Auf den Tag ganze zehn Jahre, wie ich feststellen darf. Zu Ihrem Jubiläum übrigens meinen herzlichsten Glückwunsch! Zehn Jahre sind in unserem Beruf eine lange Zeit, nicht wahr?! Die gehen nicht spurlos an einem vorbei, oder?! Ich weiß, wovon ich rede! Ich werde in der nächsten Zeit auch ein wenig kürzer treten und meinen anstrengenden Posten wohl an meinen zukünftigen Schwiegersohn, ihren Kollegen Charles Wannabe, weiterreichen dürfen. Für mich selbst wird ja da auch noch der deutlich ruhigere Posten des Leitenden Chefs von Scotland Yard vakant, wenn unser allseits beliebter und verehrter bisheriger Vorgesetzter Eddi Wallace uns zum Jahresende in den verdienten Ruhestand verläßt, um sich ganz und gar seinem kleinen "Gasthaus an der Themse" zu widmen. Und Sie, mein Lieber, könnten in ihrem fortgeschrittenen Alter in meinen Augen auch etwas weniger Aufregung gebrauchen. Dieser Fall Napolitani, an dem sie zur Zeit so emsig arbeiten, wirbelt in der Öffentlichkeit soviel Staub auf, daß einem der Ärger damit leicht über den Kopf wachsen kann. Zumal sich, wenn ich mir die bisherigen Ermittlungsergebnisse mal so anschaue, da eine Mafiabeteiligung immer mehr abzuzeichnen scheint, nicht wahr?! ...". Hier hielt Svensson die Zeit für gekommen, aktiv in jene - bisher so einseitig geführte - Unterhaltung zwischen dem Chefinsektor und ihm einzugreifen: "Das kann ich leider nicht genau beurteilen, da bisher nur Inspektor Wannabe über den aktuellen Ermittlungsstand Kenntnis hat und ...". Nun fiel ihm im Gegenzug Freakadelly wieder ins Wort: "... und dabei sollten wir es ja vielleicht auch belassen, denke ich! Inspektor Wannabe macht seine Sache nach meiner Ansicht sehr gut, und zuviele Köche verderben nur den Brei! ...". Svensson erhob - wie früher in der Schule - den Zeigefinger und gleichzeitig auch Einspruch: "Nun, da bin ich anderer Meinung! Ich glaube, daß man immer in alle möglichen Richtungen ermitteln ...". Weiter kam er nicht, denn der Chefinspektor war kurzerhand von seinem Chefsessel aufgesprungen und hatte sich bedrohlich vor ihm aufgebaut, während er mit erregter Stimme feststellte: "Ich glaube, Sie haben mich nicht verstanden! Das war kein Rat von mir und auch keine Aufforderung zur fröhlichen Diskussion. Wenn Sie diskutieren wollen, dann gehen Sie doch gefälligst ins Internet in irgendein Forum, zum Beispiel in das 24TV FORUM von Frau Yvonne Alf ... Aber nein, ich vergaß ja, Sie haben ja keinen Draht zu so neumodischen Dingen wie der Datenautobahn ... Na, wie dem auch sei: Daß Sie sich von dem Fall Napolitani ab sofort komplett zurückziehen, war jedenfalls keine gutgemeinte Bitte, sondern ein dienstlicher Befehl, dem Sie Folge zu leisten haben! Ansonsten hat das disziplinarische Konsequenzen für Sie bis hin zur Abmahnung oder Suspendierung zur Folge! Ich hoffe, ich bin da verstanden worden, Inspektor?!". Nun erhob sich auch Svensson gemächlich von seinem Platz und erwiderte gelassen: "Laut genug dafür war es ja, Sir! Ich denke mal, damit wäre dann auch alles gesagt zwischen uns?! Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend im Kreise Ihrer in Kürze noch größer werdenden Polizeifamilie. Und noch ein gutgemeinter Rat von einem alten, etwas rückständigen Untertan: Passen Sie beim Verteilen der Hochzeitstorte gut auf, daß Ihnen Ihr Schwiegersohn da genauso ein großes Stück vom Kuchen zuschiebt, wie Sie es hier im Yard für ihn tun! Wo ist der Goldjunge eigentlich? Ach ja, der kümmert sich sicher schon den ganzen Nachmittag höchst dienstlich um die Sitzordnung der diversen Hochzeitsgäste, nicht wahr?! Oder ermittelt er in streng geheimer Mission etwa, wieviele Bierkästen für die arme Braut besorgt werden müssen, um sich den aufgeblasenen Bräutigam für die Hochzeitsnacht doch noch schön zu trinken?!". Freakadellys Gesicht lief mittlerweile puterrot an, und seine Nase begann vor Wut zu schnauben. Doch noch ehe er zu brüllen anfangen konnte, hatte sich Svensson schon mit einer flüchtigen Handbewegung verabschiedet und meinte im Gehen noch ganz ruhig und trocken: "Regen Sie sich doch nicht auf, Chef! Soviel Streß ist nämlich nicht gut für den Kreislauf, und schon gar nicht in unserem fortgeschrittenen Alter. Machen Sie es einfach wie ich! Wenn Ihnen jemand dumm kommt, dann lassen Sie ihn einfach links liegen und verabschieden sich in aller Ruhe und Freundlichkeit von ihm. In diesem Sinne wie gesagt: Einen schönen Abend! Und nochmals all mein Mitgefühl an die Frau Tochter!". Mit diesen Worten ließ Svensson die Bürotür des Chefinspektors hinter sich ins Schloß fallen, zog auf dem Flur im Gehen seinen Mantel über und begab sich dann kopfschüttelnd mittels Lift ins Kellergeschoß, wo sich neben dem Archiv und den Arrestzellen unter anderem auch die Personalabteilung des Yard befand.

Vor dem Büro mit der Aufschrift "P06 - Personalangelegenheiten externe Dienstleister" machte der Inspektor halt. Er klopfte zweimal an die Tür und trat dann ein. Hinter dem Schreibtisch stand ein junger Mann, der Svensson sogleich freudig händeschüttelnd begrüßte: "Herr Inspektor! Schön, Sie mal wiederzusehen!". Svensson nickte lächelnd: "Na, Timmy, zufrieden mit dem Job?". Timmy strahlte zurück: "Ja, Sir! Damit hätte ich nach Verbüßen meiner Jugendstrafe gar nicht gerechnet. Das verdanke ich alles nur Ihrer Fürsprache! Was kann ich für Sie tun?". Der Inspektor kratzte sich nachdenklich am Kopf: "Weißt Du, Timmy, in meinem Büro hat heute eine unserer Reinigungskräfte etwas liegenlassen, nämlich einen goldenen Armreif". Der junge Mann hinterm Schreibtisch streckte seine Hand aus: "Ach, geben Sie nur her, ich leite das Schmuckstück an die Chefin der Reinigungsfirma weiter". Svensson schüttelte stürmisch den Kopf: "Nein, nur keine Umstände! Ich geb es ihr gern selbst zurück. Ich hab heute abend eh noch nichts anderes vor, da fahr ich rasch mit dem Rad bei ihr vorbei. Wenn Du mir nur den Nachnamen und die Adresse ...". Timmy dachte kurz nach, dann sagte er: "Ok, eigentlich darf ich ja keine Personaldaten weitergeben. Aber weil Sie es sind ... Wie heißt die junge Dame denn?". Svensson tat so, als müsse er erst einmal ein wenig nachdenken, dann antwortete er: "Sie heißt Yelena, glaub ich!". Timmy nickte: "Ach ja, die freundliche Russin. Moment mal!". Er hämmerte ein wenig auf der Tastatur seines Computers herum, dann las er vom Monitor ab: "Yelena Zladkaja, 49, Mitarbeiterin der Reinigungsfirma CLEAN-EX, wohnhaft in London, Skid Row, Nummer 124, 4.Obergeschoß Rechts-Rechts". Svensson notierte die Adresse hastig in sein Notizbuch, das er anschließend wieder in der Manteltasche verschwinden ließ und verabschiedete sich dann mit einem breiten Grinsen über das ganze Gesicht von seinem hilfsbreiten Schützling.

Dann fuhr er mit dem Fahrstuhl hoch ins Erdgeschoß, wo er sich im Kiosk neben der Rezeption noch rasch eine gute Flasche Rotwein empfehlen ließ, die er ebenfalls in einer seiner Mateltaschen verstaute. Im Hof kettete er seinen Drahtesel los und fuhr dann winkend an Yusuf in seinem Wärterhäuschen vorbei, der ihn verdutzt dreinschauend noch mit "Ey Alder, was geht?" verabschiedete. Svensson ließ es mit dem Treten der Pedale wie immer ganz ruhig angehen, nicht daß ihm am Ende noch der mitgeführte Wein aus der Tasche rutschte. Nach knapp drei Stunden erreichte er schließlich fröhlich pfeifend seine Zieladresse. Er schloß sein Rad am Laternenmast vor dem Hauseingang der Skid Row 124 an und erklomm dann langsamen Schrittes das etwas schmutzige, zugige Treppenhaus des mehrstöckigen Wohnhauses. Im vierten Obergeschoß bog der Inspektor zielsicher zweimal nach rechts ein und klingelte dann einmal kurz an der Tür mit dem Namensschild "Y.Zladkaja". Von innen waren Schritte zu vernehmen, die langsam schlurfend näher kamen. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit, und vor ihm stand mit zusammengekniffenen Augen, leichtbekleidet und nur notdürftig mit einem rosa Morgenmantel umhüllt, die zauberhafte Yelena. So wie sie aussah, mit ihren zerzausten Haaren und den Kissenfalten, die ihre ganze linke Wange besiedelten, hatte sie schon geschlafen. Kein Wunder, war für die Ärmste in ihrem anstrengenden Beruf ja die Nacht auch schon um 3 Uhr bereits wieder zuende.

Der spätabendliche Besucher überraschte Yelena auf alle Fälle ein wenig: "Was machen Du denn hier, Svens Sohn Lukas?". Svensson ließ sich die leichte Nervosität, die die ungewöhnliche Situation trotz aller Bemühungen um innere Gelassenheit in ihm aufkeimen ließ, nicht anmerken: "Naja, Yelena! So genau weiß ich das selbst nicht. Ich hab mich nach unserem Spaziergang den ganzen Nachmittag über dabei ertappt, wie ich immer wieder an Dich gedacht habe. Und dann war da irgendwie ständig etwas in mir, das unbedingt zu Dir wollte: Dich sehen, mit Dir reden, mit Dir lachen oder auch einfach in Deiner Nähe sein. Und da hab ich dann - vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben - gar nicht erst lange nachgedacht, sondern mich auf mein altes Fahrrad geschwungen und bin losgeradelt. Ich fand einfach nur, ich schau mal bei Dir vorbei und revanchiere mich ein bißchen für das Gesellschaftleisten in der Mittagspause". Mit diesen Worten zog er die Weinflasche aus dem Mantel heraus und überreichte sie Yelena durch den Türspalt. Yelena nahm den edlen Tropfen dankend entgegen, begutachte erst die Flasche, dann den Inspektor vor ihrer Tür und sagte schließlich: "Also gut, Svens Sohn Lukas! Ich keinen Kaffee im Haus haben, ich auch keine Briefmarken sammeln, und ich und Du morgen wieder sehr früh raus müssen und viel schuften! Also nichts Zeit bei uns beide für lange reden! Und außerdem wir zwei beide nicht mehr im Teenageralter. Darum wir lieber lassen das hier sein und gehen besser schlafen in Bett, ok?!".

Svensson hatte verstanden. Ein wenig traurig machte er auf dem Hacken kehrt. So eine Abfuhr hatte er dann doch nicht erwartet - nicht nach der wundervollen Mittagspause, die sie heute Beide im Park miteinander verbracht hatten. Aber was solls, er konnte ja auch nicht erwarten, daß sie gleich auf Anhieb so unheimlich viel für ihn empfand wie er es für sie tat. Svensson setzte gerade zum Gehen an, als Yelena die Tür entriegelte und dann sperrangelweit aufstieß, um ihm aus voller Kehle nachzurufen: "Du haben mich falsch verstanden, ich glauben! Ich gesagt haben, wir lassen reden sein und gehen besser schlafen in Bett. Aber ich nicht gemeint haben, Du gehen in Dein Bett. Sondern wenn Du wollen, Du kommen mit in mein Bett?! Oder Du haben das Flasche Wein nur für Yelena allein mitgebracht?!". Svensson drehte sich schlagartig wieder zu ihr um. Hatte sie jetzt wirklich gemeint, was er verstanden zu haben glaubte. Das Zwinkern ihrer strahlenden Augen bestätigte seine Annahme zweifelsfrei. Er lief auf sie zu und fiel ihr dabei förmlich um den Hals, während ihre Arme ebenfalls sofort seine Hüfte umklammerten - als fürchtete sie, er würde gleich noch einmal weggehen. Ihre Lippen trafen sich, erst schüchtern, dann immer wilder und fordernder - bis schließlich auch die Zungen in ihren leicht geöffneten Mündern wild miteinander zu spielen begannen. Yelena zog Svensson zu sich in die Wohnung, deren Tür sie anschließend mit einem kurzen Fußtritt hinter sich ins Schloß fallen ließ.

Nur drei Minuten später fanden sich beide völlig nackt unter der warmen Daunenbettdecke auf Yelenas Schlafliege wieder. Dort konnten die Zwei nun auch nur zu genau spüren, wie Recht Yelena doch damit gehabt hatte, wenn sie kurz zuvor meinte, sie seien keine Teenager mehr. Nein, ihre reifen Körper hatte das Leben bereits kräftig gezeichnet. Und es war auch bei Beiden längst nicht nur die Stirn, die hier und dort mal ein wenig in Falten lag. Und dennoch kuschelte sich Yelena in diesem Moment ganz eng an die stark behaarte Brust des Inspektors und ließ sich dabei von seinen starken Armen gefangennehmen. Svensson hatte indes die Augen geschlossen. Er streichelte sanft über ihre Haut, erkundete so Zentimeter um Zentimeter und genoß dabei einfach das, was er auch in der gemeinsamen Mittagspause schon so sehr genossen hatte - sie zu berühren, sie zu spüren und ihr einfach nur ganz nah zu sein. Und während Svensson dann nach einer gefühlten Ewigkeit mit einem gezielten Wurf seines linken Halbschuhs gegen den Lichtschalter das Licht im Zimmer löschte, seufzte Yelena glücklich dahinschmelzend: "Oh, Lukas! Daß Du da sein, hier bei mir, mein lieber Guter, ich haben mir in Gedanken den ganzen Nachmittag und Abend schon so sehr gewünscht!" ...

EPISODE 13: UNBESCHRANKTE ÜBERGÄNGE

Der dumpfe, monotone Klang einer schweren, gußeisernen Glocke durchbrach jäh die Stille der abgeschiedenen Landschaft. Eine Handvoll weichen Sandes schlug auf eine naturbelassene, eichenhölzerne Oberfläche. Zwei weitere Handvoll folgten ihr daraufhin in regelmäßigem Abstand nach. Erde zu Erde, Asche zu Asche und Staub zu Staub. Das war also letztlich alles, was von einem blieb - so dachte Cathrin Napolitani, während sie den Sand aus ihren zitternden Händen auf den Eichensarg im Innern des zirka zweieinhalb Meter tiefen Erdloches fallen ließ. Und vor ihrem geistigen Auge tauchte in diesem Moment die Gestalt jenes Mannes auf, dem sie ihren derzeitigen Familiennamen verdankte und dessen Leichnam nun in jenem engen Holzbehältnis ruhte - die Hände ineinander gefaltet, dem im Moment seines Todes so schmerzverzerrten Gesicht auf künstlerische Weise noch einmal würdevoll friedliche Züge verliehen, den zerstochenen Körper vom angetrockneten Blut gereinigt und danach geradezu liebevoll restauriert sowie in einen seiner Maßanzüge eingebettet. Und ein anderes Bild erschien gleichzeitig in Cathrins Kopf - das Bild einer verjüngten Version jenes Mannes voller überschwenglicher Lebensfreude, seine Hand sanft in die ihre gelegt, mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht und in den gleichen schicken Maßanzug gehüllt. Und wieder hörte sie die Worte eines Geistlichen, der sie mit würdevoller Stimme fragte: "Und Du, Cathrin Conan Doyle, willst Du die Ehe eingehen mit dem hier anwesenden Steven Arturo Napolitani? Willst Du ihn lieben und ehren und ihm treu sein, im Guten wie im Bösen, bis daß der Tod Euch scheidet?".

Bis daß der Tod Euch scheidet?! Ja, das wollte sie! Und ja ... der Tod hatte sie geschieden. Er hatte sie für immer voneinander getrennt - in tot und lebendig, in Opfer und Täter. Cathrin weinte bitterlich. Zum einen weinte sie aus ehrlich empfundener Trauer um jenen Mann, dem sie einst voller glücklicher Zuversicht ihr Ja-Wort gegeben und den sie über viele Jahre so innig und ungeteilt geliebt hatte. Zum anderen flossen ihre Tränen aber auch, da sie sich hier - im Angesicht des Todes - erst vollkommen klar darüber wurde, was Jane und sie da eigentlich getan hatten. Sie hatten in grausamer Übereinkunft ein menschliches Leben unwiederbringlich ausgelöscht - für immer. Auch wenn die Polizei längst in eine ganz andere Richtung zu ermitteln schien - abgesehen vielleicht nur von diesem merkwürdigen Inspektor, der sie vor zwei Tagen aufgesucht hatte - und keine Menschenseele auch nur ahnen konnte, wer das Leben aus Steven Napolitani förmlich herausgestochen hatte ... Cathrin wußte es, und sie mußte damit leben - für immer. Schluchzend trat Cathrin drei Schritte vom Grab zurück und vergrub ihr Gesicht in ihre Hände.

Nun war es Jane, die an den Rand der Erdgrube herantrat und nacheinander drei Hände voll Sand auf den Sarg herabrieseln ließ. Auch sie hatte in diesem Moment Stevens Gesicht vor Augen, wie er bei schummriger Beleuchtung zu den leisen Klängen von "Only You" mit entblößtem Körper in ihrem kleinen Dachzimmer neben ihr lag und ihr wundervolle Liebesschwüre ins Ohr säuselte. Und sie vernahm wie von fern seine Stimme, die liebevoll hauchte: "Nur Du und ich - für immer!". Als sie dabei für einen Moment sehnsuchtsvoll die Augen schloß, glaubte sie sogar, seinen warmen Atem noch einmal an ihrem Ohrläppchen zu spüren. Doch dann riß sie blitzschnell ihre Augen wieder auf, denn die Szene in ihrem Kopf hatte jäh gewechselt. Aus ihrem schummrigen Zimmer war ein dunkles Eisenbahnabteil geworden, aus dem leisen "Only You" das laute Schnaufen und das schrille Pfeifen einer Lokomotive, und Steven lag nicht mehr neben ihr sondern ihr zu Füßen, wo er blutend, mit weit aufgerissenen Augen und starrem, leeren Blick krampfhaft versuchte, den letzten Hauch Leben festzuhalten, der gerade im Begriff war, seinen Körper zu verlassen - für immer. Und nun schossen auch Jane unvermittelt die Tränen in die Augen, während sie ihr Gesicht mit ihrer rechten Hand vor dem Blick der restlichen Anwesenden zu verdecken suchte.

Cathrin, die sich inzwischen schon wieder ein wenig beruhigt hatte, war von hinten vorsichtig an Jane herangetreten und hatte ihr sachte die linke Hand auf die Schulter gelegt. Diese wohltuende Berührung war für Jane wie ein stummes Zeichen gewesen. Sie nahm ihre Hand vom Gesicht, drehte sich zu Cathrin herum und lehnte nun ihr Haupt trostsuchend an die Schulter der Freundin. Und Cathrin legte kurzerhand den Arm um sie und zog sie schützend zu sich heran. So standen die Zwei eine ganze Weile, während die anderen Trauergäste am Grab dem Toten die letzte Ehre erwiesen. Irgendwann begann schließlich die anwesende kleine Kapelle andächtig "So nimm denn meine Hände" zu spielen, worauf sich die Trauergemeinde - angeführt von Cathrin und Jane, die sich aneinandergelehnt gegenseitig Halt gaben - in loser Marschordnung Richtung Friedhofstor in Bewegung setzte. Sie schritten dabei still und gesenkten Hauptes vorbei an den zahlreichen abendländischen Lebensbäumen, die am schmalen Friedhofsweg würdevoll Spalier standen, und an einem älteren, unscheinbaren Herrn im abgenutzten Trenchcoat, der der gesamten Beerdigungsfeier aus respektvollem Abstand aufmerksam beigewohnt hatte.

Auf dem dreißigminütigen Heimweg hatten Jane und Cathrin kein Wort miteinander gesprochen. Erst als Cathrin die Haustür aufschloß, öffneten sich damit scheinbar auch ihre schweigsamen Lippen: "Jane, Kleines! Das war alles so schrecklich. Ich mußte die ganze Zeit an ihn denken und an das, was wir ihm da angetan haben. Es ist, als ob einem von jetzt an zeitlebens ein zentnerschwerer Stein auf der Seele liegen würde, der einem die Luft abzudrücken droht. Wie um alles in der Welt kann man nur mit so einer Schuld weiterleben?". Jane nickte zunächst nur stumm. Erst als sie Cathrin im Flur aus dem Mantel half, erwiderte sie: "Ja, das ist eine grauenvolle Last, die wir da mit uns herumtragen. Jede Nacht sucht mich Steven im Traum heim. Immer wieder verkündet er mir, etwas von ihm würde stets in mir bleiben ... Mir ist die ganze Zeit so schlecht, ich fühle mich so schlapp und gleichzeitig so schrecklich aufgewühlt und unruhig. Vielleicht sollten wir uns ja doch ein für allemal von dieser bedrückenden Last befreien und zur Polizei gehen?! Ich frage mich schon die ganze Zeit, ob es uns dann nicht endlich wieder besser gehen würde. Versteh mich nicht falsch! Was Steven uns Beiden angetan hat, war zweifellos hinterhältig und gemein. Und was er uns dann noch grinsend vorschlug, das setzte dem Ganzen praktisch die Krone auf. Wir waren alle Zwei enttäuscht und wütend. Er hatte uns über Wochen hinweg beide belogen und betrogen, und dann wollte er aus uns am Ende gar noch seine gefügigen Betthäschen machen. Das war einfach zuviel! Vielleicht bekommen wir ja vor Gericht sogar mildernde Umstände zugesprochen, weil wir im Affekt ...". Weiter kam die immer mehr erblassende Jane in ihren Ausführungen nicht. Sie verdrehte nur noch kurz die Augen und sank dann ohne ein weiteres Wort förmlich in sich zusammen.

Cathrin hatte keine Sekunde gezögert, das zusammenbrechende Wesen in ihren Armen aufgefangen und so vorm fast schon sicheren Aufprall auf dem harten Laminat des Flurbodens bewahrt. Sie schleifte die bewußtlose Jane vorsichtig auf das Sofa im Wohnzimmer, wo sie mittels eines Kissens erst einmal Janes Füße hochlagerte und ihr behutsam die obersten Knöpfe der schwarzen Seidenbluse öffnete, um ihr damit Raum zum Atmen zu verschaffen. Ihre rechte Hand bewegte Cathrin dabei zwischen Janes und ihrem Gesicht schnell hin und her - wobei nicht ganz klar war, wem sie hier eigentlich mehr kühle Luft zuzufächeln versuchte: der bewußtlosen Jane oder aber sich selbst. Denn auch Cathrin war in diesem Augenblick irgendwie recht komisch zumute. Zum einen machte sie sich Sorgen um die scheinbar angeschlagene Gesundheit ihrer neuen Freundin, zum anderen aber ließ sie auch der sich eröffnende tiefe Einblick in Janes freigelegtes Decolte nicht völlig kalt. Cathrins Herz schlug wild, und noch ehe sie sich ihrer verwirrenden Gefühle recht bewußt werden konnte, begann Jane neben ihr langsam wieder zu sich zu kommen. Cathrin setzte sich vorsichtig zu der jungen Studentin auf das Sofa und bettete deren Kopf dabei ganz liebvoll auf ihren Schoß. Vorsichtig strich sie Jane übers Haar und die kaltschweißige Stirn: "Jane, mein Engel, was machst Du denn bloß für Sachen?! Ich hatte solche Angst um Dich! Irgendetwas stimmt nicht mit Dir, Kleines. Ich glaube, es ist Zeit, daß ich Dich mal zu meiner Hausärztin bringe und dort gründlich untersuchen lasse. Diese dauernde Übelkeit und dann dieser Schwächeanfall jetzt. Es muß doch einen Grund dafür geben. Ich rufe erst einmal rasch Frau Doktor Gaines an und mach für morgen früh einen Termin mit ihr aus, und dann koch ich Dir einen schönen heißen Kamillentee. Du aber bleibst ganz ruhig hier liegen, bis ich wieder bei Dir bin, ok?!". Jane lächelte, noch immer ein wenig erschöpft: "Ach Cathrin, Du bist so gut zu mir. Das hab ich gar nicht verdient ...". Cathrin legte ihr den Zeigefinger auf die blassen Lippen: "Psst! Schon in Ordnung, Liebes!". Und etwas nachdenklich fügte sie hinzu: "Und was die Sache mit der Polizei angeht, darüber reden wir noch einmal in aller Ruhe, wenn wir wissen, daß auch wirklich alles in Ordnung ist mit Dir, ja?!". Jane nickte noch einmal zustimmend, dann entschwand Cathrin fürs Erste aus ihrem Blick.

Später beim Abendessen hatte sich Jane schon wieder sichtlich erholt und legte zu Cathrins Freude einen geradezu gesegneten Appetit an den Tag. Und so ließen die beiden Frauen nach einem umfangreichen Mahl den aufregenden Tag ganz entspannt mit einem Glas Rotwein in der Hand vorm stürmisch knisternden, heimischen Kamin ausklingen. Das schummrige Flackerlicht, welches das Kaminfeuer ausstrahlte, verlieh den Gesichtern der Frauen einen zusätzlichen warmen Touch. Cathrin konnte sich an Jane gar nicht sattsehen. Dieses grazile Geschöpf mit der Anmut eines Filmstars und der Scheuheit eines Rehs löste in der erfahrenen Frau Gefühle aus, wie es nie zuvor je ein weibliches Wesen - mit Ausnahme von Cathrins innig geliebter Mutter vielleicht - vermocht hatte. Vorsichtig stellte sie ihr Glas beiseite und berührte sanft die Füße der jungen Frau. Jane wich der Berührung dabei keineswegs aus, sie schloß vielmehr ihre Augen und ließ den Kopf ein wenig in den Nacken fallen, um so alles nur noch intensiver spüren zu können. Cathrins Hand war inzwischen ein wenig höher geglitten und umspielte sanft die Außenseite von Janes Unterschenkeln, die von ihrer Strumpfhose zart umhüllt wurden. Irgendwann - nach einer gefühlten Ewigkeit - waren Cathrins wandernde Hände schließlich sogar an Janes Rocksaum angelangt, wo sie ein wenig innehielten und dann mit einem intensiven Streicheln der Oberschenkelinnenseiten fortfuhren. Janes Atem wurde unter den Liebkosungen, die Cathrin ihr entgegenbrachte, langsam etwas schwerer. Sie öffnete ihre Augen einen Spalt weit und beugte den Oberkörper deulich nach vorn, so nah an Cathrins Kopf heran - daß Janes Mund schließlich sogar deren Ohr streifte, während ihre Lippen leicht auseinandergingen, um den Zähnen ein behutsames Knabbern am Ohrläppchen der Freundin zu ermöglichen. Nun war es Cathrin, die die Augen schloß und den Kopf ein wenig nach hinten überstreckte. Jane begann gleichzeitig, ein wenig nervös mit ihren Fingern am obersten Knopf von Cathrins Bluse herumzunesteln. Dann hielt sie einen kurzen Moment inne und fragte: "Kate, Schatz, soll ich lieber aufhören? Ich will Dich schließlich nicht zu etwas verleiten, wozu Du vielleicht gar nicht bereit bist - jedenfalls noch nicht?!". Aber Cathrin lehnte sich nur noch weiter zurück, und ihr Körper entspannte sich dabei zusehends, während ihre bebenden Lippen leise aber dennoch ganz deutlich hervorstießen: "Oh Jane, nein! Um Himmelswillen, nein! Mach bitte weiter, nur nicht aufhören!". Und während das wildprasselnde Feuer im Kamin nun erst so richtig aufzuflammen begann und dadurch eine geradezu tropische Hitze im ganzen Raum verbreitete, vereinten sich in seinem flammenden Schein zwei sich nach Zärtlichkeit verzehrende Körper miteinander in einem langen, innig leidenschaftlichen Kuß ...

EPISODE 14: UNTERGANG IM ABENDROT

Dunkle Wolken zogen auf am Himmel über London. Es wurde auf einen Schlag kühler und dunkler über der englischen Metropole. Die Sonne hatte sich zum Schlafengehen in ihr blutrotes Abendkleid gehüllt und war gerade im Begriff, ihren vom ewigen Strahlen müden Körper am Horizont im Wasser der Themse abtauchen zu lassen. Mitten auf der Towerbridge war im Dämmerlicht die Silhouette einer jungen Frau zu erkennen, die sich über das Geländer hinweglehnte und dabei mit versteinertem Blick auf die klare, ruhige Wasseroberfläche herabsah. Tränen liefen über ihre Wangen und tropften von dort aus in die Tiefe. Es vergingen einige Sekunden, bevor sie auf dem Wasserspiegel auftrafen und dort kleine kreisförmige Wellen verursachten. In ihrer linken Hand hielt die junge Frau jenen zusammengepreßten Brief, den sie vor etwa einer Stunde von der Ärztin ausgehändigt bekommen hatte und auf dem schwarz auf weiß ihr Todesurteil stand ... "Laborbefund: HIV - Positiv".

Positiv? So ein Unsinn! Was um alles in der Welt sollte denn daran positiv sein, wenn man damit gleichzeitig sicher dem Tode geweiht war. Die Ärztin hatte ihr natürlich erklärt, daß sie mit dieser Diagnose und begleitenden Therapien vielleicht noch ein paar Jahre leben konnte, aber irgendwann wäre dann ihr Immunsystem eben so geschwächt, daß sie selbst die kleinste Erkältung ganz einfach umbringen würde. Nein, so wollte sie nicht enden - auf gar keinen Fall! Dann wollte sie schon lieber gleich und aus freien Stücken aus diesem Leben scheiden. Was hatte sie denn auch noch vom Leben? War es nicht schon jetzt ein einziger Alptraum durch jenen grauenvollen Moment, den sie immer wieder vor Augen hatte? Die junge Frau erklomm entschlossen das Geländer, streckte die Arme noch ein letztes Mal dem Himmel entgegen und ließ sich schließlich einfach fallen - kopfüber von der Brücke ins Wasser. Schwimmen konnte sie nicht, das hatte sie - wie so vieles in ihrem noch so jungen Leben - nie gelernt. Und so ging sie dann im eiskalten Naß der Themse auch sofort unter wie ein Stein. Nur ein paar kreisrunde Wellen und einige Luftbläschen an der Eintauchstelle zeugten noch einige Augenblicke von ihrem selbstgewählten Untergang. Dann kehrte wieder Stille ein auf der gesamten Wasseroberfläche ... Totenstille ...

EPISODE 15: ENTHÜLLUNGEN IM NEBEL

Der morgendliche Nebel über der Londoner City schien sich nur sehr langsam zu lichten. Immer wieder krochen dicht über dem Erdboden einzelne Nebelschwaden vorüber und versperrten einem so die Sicht. Dennoch war es einem Hafenarbeiter in den frühen Morgenstunden scheinbar gelungen, vom Ufer her einen leblos dahintreibenden Frauenkörper auf dem sonst so ruhigen Wasser der Themse zu entdecken. Blitzschnell war er zur nächsten Telefonzelle geeilt und hatte den Notruf gewählt, so daß es an besagter Stelle des Flußufers schon nach einer halben Stunde nur so wimmelte von Polizei, Rettungsdienst, Tauchern, Journalie und Schaulustigen.

Binnen weniger Minuten war das menschliche Treibgut ans Ufer befördert und dort durch den Amtsarzt der Tod festgestellt worden. Der Todeszeitpunkt wurde vom dem dazugerufenen Gerichtsmediziner auf den Vorabend im Eilverfahren so zwischen 18 und 22 Uhr festgelegt, genauer ließe sich das erst nach der Obduktion der Toten feststellen. Ebensowenig konnte bei der scheinbar Ertrunkenen ein Fremdverschulden von vornherein völlig ausgeschlossen werden - auch wenn dem ersten Anschein nach alles auf einen Freitod hindeutete. Die Kleidung der jungen Frau, die von den Polizisten bereits gründlich durchsucht worden war, ließ keinerlei Rückschluß auf die Identität der Toten zu. Der einzige Anhaltspunkt, den es bei ihr gab, war jener zerknüllte Brief, den sie immer noch krampfhaft in ihrer Hand hielt. Leider war die Schrift darauf durch die mehrstündige Einwirkung des Themsewassers fast bis zur kompletten Unleserlichkeit verlaufen. Hier schien nun das Können des Labors im Yard gefragt zu sein, dessen Mitarbeiter in ähnlich aussichtslosen Fällen schon wahre Zauberkunststücke vollbracht hatten.

Jener bisher so wenig ergiebige Stand der Dinge wurde in diesem Augenblick auch dem ein wenig abseits auf einer Anhöhe stehenden und etwas verächtlich auf das bunte, ameisenähnliche Treiben seiner Leute herabschauenden Chefinspektor Wannabe mitgeteilt. Nach etwa zwei Minuten unterbrach Wannabe kopfschüttelnd mit einem Fingerschnipsen den Bericht seines Gegenüber: "Moment mal! Alles deutet also erstmal auf Selbstmord hin? Und da haben sie nichts Besseres zu tun, als mich frühmorgens um 6 Uhr aus dem Bett zu läuten? Was hab ich denn mit einer vermutlich völlig unbekannten Verrückten zu tun, die ihrem unspektakulären Leben aus freien Stücken ein Ende setzt? Das nächste Mal rufen Sie mich nur, wenn es sich um einen großen Kriminalfall handelt, verstanden?! Schließlich hab ich genug um die Ohren mit diesem Spirelli und seinen Leuten! Ich empfehle mich!" Damit machte er auf dem Hacken kehrt und lief eiligen Schrittes zu seinem bereitstehenden Wagen zurück, wo Crawler bereits auf ihn wartete.

Wannabe instruierte seinen Mitarbeiter, sofort Svensson anzurufen und herbeizubeordern. Die Tote von der Themse werde ab sofort sein neuer Fall. Wannabe sah in diesem - seiner Meinung nach geradezu raffinierten - Schachzug die Möglichkeit, praktischerweise zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Zum einen hätte er diesen lästigen kleinen Fall von seinem Tisch, und zum anderen wäre Svensson mit seinen stets achso gründlichen Ermittlungen zu sehr beschäftigt, um ihm bei seinen Ermittlungen bezüglich Spirelli und seinen dunklen Machenschaften in die Quere zu kommen. Wenn es ihm nämlich gelang, Spirelli quasi im Alleingang die Beteiligung an großangelegter Prostituation Minderjähriger und am Mädchenhandel nachzuweisen, dann konnte das seiner weiteren Karriere äußerst förderlich sein. Und diesen Ruhm wollte er natürlich auf keinen Fall teilen, schon gar nicht mit so einem abgewrackten Fastruheständler wie diesem Svensson.

In diesem Moment läutete Wannabes Handy. Er fischte das Telefon aus der Jackentasche, warf einen raschen Blick auf das Display und verdrehte dann nur kurz die Augen, während er schulterzuckend und noch einmal tief durchatmend den Anruf per Knopfdruck entgegennahm und das Telefon dann an sein Ohr führte. Offensichtlich verfügte seine sehr lautstarke Gesprächspartnerin am anderen Ende über einen ziemlich ergiebigen Redefluß, denn Wannabe kam während ihrer kurzen Luftholpausen nur recht abgehackt zu Wort: "Ja ... ja, Liebes ... nein ... hab ich ... hab ich nicht ... ja ... nein ... ich verspreche Dir ... ja ... nein ... ja, pünktlich um 19 Uhr ... ich weiß ... mach ich ... nein ... vergeß ich nicht ... nein ... auf keinen Fall ... ja ... bis heute abend ... ok, Schatz ... Ciao!" Mit einem weiteren Knopfdruck beendete Wannabe mit hochrotem Kopf und einem leichten Taubheitsgefühl im rechten Ohr das Gespräch. Für einen Moment schloß er ganz fest die Augen und ballte dabei die Fäuste in seinen Jackentaschen, wie er es häufig zu tun pflegte, wenn ihn etwas oder jemand komplett aus der Fassung brachte. So entging ihm glücklicherweise auch gleichzeitig Crawlers breites Grinsen. Er, der von Wannabe selbst schon so oft grundlos verbal zusammengestaucht worden war, ergötzte sich daran zu sehen, daß sein Chef in der Tochter Freakadellys offensichtlich eine - gerade in diesem Punkt - recht ebenbürtige Partnerin gefunden hatte.

Eine Dreiviertelstunde verging. Wannabe wartete immer noch - von einem Fuß auf den andern trampelnd, mit der bereits achten Zigarette im Mund - darauf, daß Svensson ihn endlich ablösen kam. Langsam wurde er ungehalten - ein Charakterzug, der sich des eh etwas cholerisch veranlagten Beamten in letzter Zeit leider recht häufig bemächtigte. Und so schnauzte er Crawler einmal mehr grundlos von der Seite her an: "Wo bleibt denn dieser halbsenile Opa mit seinem Klapperrad nur wieder? Ich steh mir hier sinnlos die Beine in den Bauch, während im Büro die richtige Arbeit auf mich wartet! Außerdem friere ich bei diesem ewigfeuchten Mistwetter, ich werd mir noch einen Schnupfen ...". Weiter kam der Chefinspektor in seinem Satz nicht, stattdessen stieß er wie zur Untermalung einen extralauten Nieser aus, dessen Rückstände er sogleich mit dem Ärmel seines Anzugs hinwegzuwischen suchte. Ein wenig irritiert schaute er dann nach rechts, von wo plötzlich aus dem Nebel eine Stimme an sein Ohr drang: "Na, eine Erkältung im Anzug, Wannabe?! Tja, wie warnen doch gleich nochmal die EU-Gesundheitsminister auf der Packung ihrer sich rasch in Rauch auflösenden Teerstengelchen: Rauchen gefährdet die Gesundheit! In diesem Sinne: Wohl bekomms und Gute Besserung! ... Sorry, daß ich jetzt erst auftauche, aber bei dem 'Opa' gings nicht schneller. Mann wird halt auch nicht jünger, aber wem erzähl ich das?! Sie haben da auch schon ein paar graue Haare bekommen, seit sie mit der - wie man so hört - recht eigensinnigen Tochter des Chefs ... Aber lassen wir den Smalltalk! ... Also, was haben wir denn hier?"

Mit den letzten Worten betrat Inspektor Svensson - wie aus dem Nichts auftauchend - aus dem Nebel heraus den Schauplatz. Wannabe warf seinen Glimmstengel wütend zu Boden und erstattete dann recht widerwillig seinen Bericht an den ungeliebten Inspektor: "Tote Frau mit bislang ungeklärter Identität, um die 20 Jahre alt. Todesursache vermutlich Selbstmord durch Ertrinken, Todeszeitpunkt gestern abend zwischen sechs und zehn. Alles, was wir haben, ist ein schlecht erhaltener Brief in ihrer linken Hand, der zur weiteren Untersuchung bereits auf dem Weg in unser Labor ist ... So, das wars! Ihr Fall! Ich bin dann mal weg!" Damit setzte er sich ins Auto und schlug eilends die Tür hinter sich zu. Ein Wink in Richtung Crawler genügte, und der rote Jaguar entschwand mit quietschenden Reifen von der Absperrung am Fundort der Leiche.

Svensson sah dem Wagen noch einen Moment kopfschüttelnd hinterher: "Daß dieser Wannabe es immer so eilig haben muß. Langsam kommt man doch auch ans Ziel. Und dazu noch die ewige Qualmerei. Naja, ich glaub, der lernt das nie. Das sind dann halt die Typen, die irgendwann mit 50 Jahren an einem Herzinfarkt sterben. Wie dem auch sei, ich bin weder ein Freund der Wannabeschen Lebensweise noch einer seiner Art der Tatortfernbesichtigung. Ich hab lieber alle Beobachtungen und Ergebnisse aus erster Hand". Damit bewegte er sich schnurstracks auf die Tote zu, deren Leichnam inzwischen mit einem weißen Tuch bedeckt worden war. Den Beamten, der die Leiche bewachte, begrüßte Svensson sogleich gewohnt freundlich mit Handschlag: "Guten Tag, Sergeant. Ich bin Inspektor Lukas Svensson". Der Sergeant war ein wenig überrascht über die freundliche Geste des ihm doch völlig fremden Inspektors. Es brauchte daher bei ihm eine Sekunde des Sich-Sammelns, bevor er lächelnd erwidern konnte: "Angenehm, Sir! Ich bin Sergeant Phillip Young von der Wasserschutzpolizei. Meine Leute haben die Tote aus dem Wasser geborgen". Svensson deutete mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand auf das Leichentuch: "Darf ich sie mal sehen?!" Sergeant Young nickte eifrig. Der Inspektor ging neben dem Leichnam leicht in die Knie und hob dann behutsam auf der Kopfseite eine Ecke des weißen Tuches ein wenig in die Höhe. Doch schon einen Augenblick später ließ er mit einem Ausdruck des Entsetzens im Gesicht das Tuch wieder fallen: "Oh mein Gott, die junge Frau kenne ich doch! Entschuldigen Sie mich bitte! Ich muß sofort in mein Büro zurück. Veranlassen Sie bitte umgehend die Abholung der Leiche in die Gerichtsmedizinische Abteilung des Yard! Die genauen Personendaten teile ich den Leuten vor Ort dann telefonisch mit, wenn ich sie aus meinen Aufzeichnungen herausgesucht hab. Vielen Dank, Phillip! Ich darf doch Phillip sagen, oder?! Ich bin der Lukas!" Wieder nickte der junge Sergeant eifrig, wenn auch erneut sichtlich überrascht vom so überaus rasch angebotenen Du. Tja, aber so war der Inspektor nun mal. Und schon eine Minute später rief ihm Svensson gemächlich vorbeiradelnd zu: "Na dann, alles Gute und auf Wiedersehen, Phillip!" ...

EPISODE 16: UNTER ZUGZWANG

Schleichend kroch die Dunkelheit durch die Straßen Londons. Ein warmes Lüftchen trieb sie unaufhaltsam vom Inneren der City aus in die Vororte. Svensson war eigentlich schon mit dem Rad auf dem Rückweg vom Büro nach Hause, wo Yelena sicher sehnsüchtig auf ihn wartete. Und dennoch sah er sich heute zu einem Umweg veranlaßt, der ihn in eine ihm vertraute Gegend zurückführte. Vor dem imposanten Anwesen in der Al-Meida-Street hielt er an, lehnte sein Rad gegen den Zaun, wo er es mit seinen Handschellen anschloß und atmete dann noch einmal ganz tief ein und aus. Schließlich drückte er ein wenig zögerlich auf den Klingelknopf neben der goldenen Hausnummer 88. Der Inspektor war sich bewußt, daß dieser Besuch nötig war und dennoch hatte er ihn seit heute vormittag vor sich hergeschoben. Im Haus blieb alles dunkel. Vielleicht war ja gar niemand da. Ja, das mußte es wohl sein. Na gut, er konnte ja auch morgen vormittag noch einmal vorbeischauen. Gerade, als er auf dem Hacken kehrt machen wollte, ging ein Licht im Hausflur an, und die Haustür wurde aufgeschlossen.

In einen Morgenmantel gehüllt erschien eine Sekunde später Cathrin Napolitani im Lichtkegel der Eingangsbeleuchtung. Ihre Augen mußten sich erst an die Helligkeit gewöhnen. Und so trat sie blinzelnd langsam auf dem Gartenweg hinaus, der zum gußeisernen Tor führte. Einen Augenblick später erkannte sie, wer da vor ihrer Tür stand und zu so nachtschlafender Zeit Einlaß begehrte. Sie schaute ein wenig irritiert, schüttelte kaum merklich den Kopf und brauchte dann noch einige Sekunden, bevor sie schließlich etwas sagen konnte: "Guten Abend, Herr Inspektor! Sie sind doch derjenige, der mir die Nachricht vom Tod meines Mannes überbracht hat, richtig?!" Svensson schüttelte mit ernster Miene sein Haupt: "Nicht ganz!" Cathrin war sichtlich überrascht: "Wie, nicht ganz? Ach, Sie sind wohl inzwischen befördert worden, zum Chefinspektor oder so?!" Nochmals wackelte Svenssons Kopf deutlich hin und her: "Nein, Misses Napolitani, die Beförderungen kassieren bei uns im Yard andere. Aber ich bin nicht der, der Ihnen die Nachricht vom Tode Ihres Mannes überbracht hat ... sondern von seiner Ermordung!" Sein Ton wurde dabei fester. Cathrin beunruhigte dieser Tonfall sichtlich. Ein wenig eingeschüchtert bat den Beamten zu sich ins Haus.

Im Flur angekommen legte Svensson auf Cathrins Bitte ohne ein weiteres Wort seinen Mantel ab. Die Hausherrin führte ihren Gast weiter ins Wohnzimmer, wo sie auf der Couch platznahmen. Nach einer gefühlten Ewigkeit fragte Cathrin schließlich vorsichtig: "Ihr Name war Svensson, richtig?!" Das leichte Kopfnicken des Inspektors ließ sie wieder ein wenig Mut fassen: "Möchten Sie etwas zu trinken? Dank meinem verstorbenen Mann verfügt die Hausbar immer noch so über ziemlich alles, was man sich denken kann". Svenssons Blick klebte auf Cathrins Gesicht, als wolle er so in ihren Kopf eindringen, um ihre Gedanken zu lesen. Schließlich nickte er erneut und meinte: "Ja, gern! Aber bitte nichts Alkoholisches. Davon vertrag ich immer so wenig, und außerdem bin ich ja dienstlich hier. Aber gegen eine Tasse Schwarztee hätte ich nichts einzuwenden. Mit Milch, wenn das geht?" Cathrin war bereits aufgesprungen und auf dem Weg in Richtung Küche, wobei sie im Gehen erwiderte: "Aber natürlich geht das. Dauert auch nur eine Minute". Daß aus der einen Minute schließlich fast 5 Minuten wurden, war dem Inspektor ganz recht. Für das, was er Cathrin jetzt zu sagen hatte, brauchte er noch ein wenig mentale Vorbereitung. Gleichzeitig zog er einen Zettel aus der Brusttasche seines Oberhemds, den er zuvor im Büro sorgfältig zusammengefaltet und dort verstaut hatte.

Schließlich kehrte Cathrin mit einem Tablett aus der Küche zurück, auf dem zwei Tassen, zwei separate Kännchen mit Tee und Milch sowie ein Schälchen mit Würfelzuckerstücken stand. All dies plazierte sie sogleich mit vorgebeugtem Oberkörper auf dem kleinen Tischchen vor der Couch im Zugriffsbereich des Inspektors. Leicht hätte dieser dabei einen Blick in ihr üppiges Decolte erhaschen können, aber seine Augen starrten weiterhin nur nach Cathrins Gesichtszügen. Die Gastgeberin setzte sich wieder, goß sich und dem Inspektor Tee ein, tat einen Schuß Milch in den seinen, während sie ihren völlig schwarz beließ ... schwarz wie die Nacht. Nur zwei Stück Würfelzucker gönnte sie sich zur Versüßung. Svensson war da nach deutlich weniger Süße zumute. Sein Geschmack war eher, wenn es auch ein wenig bitter sein mochte, ganz unverfälscht weiß auf schwarz ... oder schwarz auf weiß.

Und so faßte er sich denn nach einem ersten Schluck aus seiner Tasse auch endlich ein Herz und sprach: "Misses Napolitani, der Grund warum ich Sie zu so später Stunde aufsuche, ist kein angenehmer. Aber es wird auch nicht leichter, wenn wir hier nur abwarten und Tee trinken. Es geht um Sie und um Ihre Freundin Jane ..." In diesem Moment öffnete sich unter leisem Quietschen die Wohnzimmertür und eine junge Frau trat in einen deutlich zu großen Männerschlafanzug gekleidet mit verschlafenem Blick ins Zimmer. Gähnend sagte sie: "Hab ich da eben meinen Namen gehört? Was gibts denn, Kate? Und wer ist denn da bei Dir?" Die letztere Frage beantwortete Svensson sogleich selbst, indem er sich erhob und - eine Verbeugung andeutend - seinen eingeübten Spruch aufsagte: "Guten Abend! Svensson ... Inspektor Lukas Svensson, Scotland Yard!" Schlaftrunken auf die Couch zutaumelnd winkte Jane ab: "Ach ja, na klar. Der freundliche ältere Herr mit dem schwedischen Namen und dem so unglaublich faszinierenden Vornamen. Entschuldigen Sie bitte meinen Aufzug, aber ich hab schon tief und fest geschlafen". Svensson entschuldigte gern - der Anblick eines weiblichen Wesens, das sich in einen Männerpyjama hüllte, faszinierte ihn schließlich auch jedes Mal aufs Neue bei seiner Yelena.

Ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht und verschwand dann ebenso schnell wieder, wie es gekommen war. Dann räusperte sich der Inspektor und nahm seine begonnene Ansprache wieder auf: "Also, wie ich schon sagte, es geht bei meinem dienstlichen Besuch um sie Beide. Es sind jetzt fast genau 4 Jahre vergangen, seit ich Ihnen, Misses Napolitani, die Nachricht von der grausamen Ermordung Ihres Gatten überbrachte. In diesen Jahren habe ich erst offiziell, später als ich von dem Fall abgezogen worden war, auch inoffiziell in alle möglichen Richtungen ermittelt. Ich habe Sie, Cathrin, und ihren Mann Steven genaustens unter die Lupe genommen. Und natürlich auch Sie, Jane!" Janes Gesicht erstarrte unmittelbar, als es in diesem Moment von Svenssons eisigem durchdringenden Blick gestreift wurde. Erschrocken sah sie zu Cathrin hinüber und die zu ihr. Und der Inspektor musterte Beide genaustens, jede mit einem seiner geschulten Augen.

Schließlich meinte er: "Ich muß zugeben, ich hatte schon nach einigen Tagen vor allem sie Beide in Verdacht, Steven Napolitani umgebracht zu haben. Mir fehlte aber noch ein Motiv. Auf das mögliche Motiv hat mich dann heute Mittag ein Anruf aus Manchester gebracht. Eine Mitstudentin von Jane hat sich nach ihrem vierjährigen Auslandsstudium an der Uni zurückgemeldet, dabei zufällig auch von meinen damaligen Ermittlungen bezüglich Jane erfahren und sich als ihre ehemals beste Freundin an etwas erinnert. Ich habe am Telefon etwa eine halbe Stunde mit Nicole Watson - so heißt die junge Dame - angeregt geplaudert. Und sie teilte mir mit, daß Jane kurz vor Nicoles Abreise beim Tanzen einen älteren Mann kennengelernt habe und von dem außer ihr aber anscheinend niemand etwas wußte. Sie beschrieb mir den Mann sehr genau, und das haute mich gelinde gesagt vom Hocker. Über die Uni faxte ich ihr, um sicherzugehen, noch rasch ein Foto von Steven. Und siehe da, Ihr unbekannter Lover - Jane - und Ihr Ehemann - Cathrin - sind tatsächlich mit einem Male ein und dieselbe Person. Zufall? Ok, bis dahin vielleicht. Aber es war mir dann schon ein wenig zuviel des Guten, daß sie Beide unmittelbar nach Stevens so schrecklichem Ableben eine Wohngemeinschaft bilden - noch dazu eine, die wohl über die Grenzen der normalen WG weit hinaus geht. Es sei denn, wir lebten noch am Ende der sechziger oder Anfang der siebziger Jahre. Tja, und nach dem aufschlußreichen Anruf hab ich dann noch einmal den ganzen Nachmittag und frühen Abend lang genaustens alle Akten und Notizen von damals durchforstet, denn was mir nun in meiner Beweiskette noch fehlte, war nur ein einziger Hinweis, der sie Beide zur Tatzeit mit dem Tatort in Verbindung bringt. Et voila ..." Damit entfaltete er demonstrativ die zusammengelegte Notiz in seiner Hand, um - einem Vertreter der Anklage gleich - zum Schlußplädoyer anzusetzen.

Für Cathrin war das alles zuviel. Sie brach in diesem Moment förmlich in sich zusammen, wobei ihr Kopf laut schluchzend und weinend in Janes Schoß fiel. Deren Gesicht teilte augenblicklich die Tränen ihrer Geliebten, während sie mit zitternder Stimme ausrief: "Ja, wir Zwei sind ein Paar. Und wir haben uns nur gefunden, weil uns das Schicksal miteinander verbunden hat. Stevie oder Steven, dieser gemeine Hund, hat uns Beide monatelang belogen und miteinander betrogen. Und dann grinste er uns mitten ins Gesicht und wollte, daß wir alle drei zusammenwohnen, damit er ständig zwei gefügige Betthasen um sich hat, die ihm neben all dem erwarteten Spaß in der Kiste auch noch seine dreckige Wäsche und den Haushalt besorgen. Der Mann, den jede von uns auf ihre Art über alles liebte, entpuppte sich plötzlich und ohne Vorwarnung als gefühlloses Dreckschwein mit einem absurden, krankhaften Kopfkino. Damit hat er unseren unschuldigen und vertrauensvollen Seelen einen geradezu tödlichen Stich versetzt, der jede von uns im gleichen Moment mitten ins Herz traf. Können Sie eigentlich nachempfinden, wie das ist, wenn man mit einem Male alles verliert, was man liebt? Sicher nicht. Und ich hoffe für Sie, daß sie es auch nie erfahren müssen. Denn das ist, als ob man in ein bodenloses Loch fällt - um einen her nur eisige Kälte und völlige Dunkelheit. Und in diesem Loch haben wir Beide - Cathrin und ich - uns ganz fest aneinandergeklammert und im freien Fall einen gemeinsamen Entschluß gefaßt ..." Am Rande dieses Geständnisses brach nun auch Jane komplett in sich zusammen und ließ ihren Kopf auf das Haupt der Freundin sinken.

Wieder quietschte die Wohnzimmertür - wieder trat jemand, sich mit verschlafenem Blick die Augen reibend, ins Wohnzimmer. Es war ein kleiner Junge, Svensson schätzte ihn auf Anhieb auf drei bis vier Jahre alt. Seine krausen Locken und der Schein des Flurlichts verliehen ihm sofort etwas Engelhaftes. Er sah sich blinzelnd um und lief dann sofort - noch ein wenig wacklig auf den Beinen - auf die beiden Frauen zu, die immer noch als schier untrennbares Knäul ineinander verschlungen wild schluchzend auf der Couch lagen. Behutsam streichelte er mit seinen beiden kleinen Händchen über die Köpfe der Frauen. Dann sagte er leise: "Mami, Tante Katie, warum weint Ihr denn? War der Onkel nicht lieb zu Euch?" Traurig schaute er in Richtung des Inspektors und fügte hinzu: "Onkel, Du mußt doch lieb sein zu meiner Mami und zu Tante Katie! Wer bist Du denn überhaupt, Onkel? Bist Du viellicht mein Papi?" Nein, Inspektor Svensson war sich sicher, daß er ganz gewiß nicht der leibliche Vater dieses bezaubernden, kleinen Kerls war. Zum ersten hatte er nie auch nur annähernd ein intimes Verhältnis zu dessen Mutter gehabt, zum zweiten kam eine anonyme Samenspende für ihn nie infrage, und zum dritten konnte man sofort und auf Anhieb erkennen, wem der kleine Kerl wie aus dem Gesicht geschnitten zu sein schien. Vor ihm stand die unschuldige Kleinkindversion von Steven Napolitani, jenem Toten aus dem Zug.

Svensson hatte bei dem herzzerreißenden Anblick des Jungen und der beiden Frauen nun selbst mit den Tränen zu kämpfen. Er strich dem kleinen Lockenkopf sacht über die Stirn und erwiderte dann leise: "Nein, mein Junge, ich bin nicht Dein Papi. Ich bin der Onkel Lukas. Und ich hab mit Deiner Mami und Deiner Tante etwas ganz Wichtiges zu bereden gehabt. Aber jetzt bin ich auch schon fast fertig. Nur noch eine kleine Geschichte vorlesen muß ich Tante Katie und der Mutti, eine Erwachsenengeschichte". Der Kleine guckte ein wenig skeptisch, dann schmunzelte er: "Onkel Lukas?! Das ist ja komisch. Weißt Du was, ich heiße so ähnlich wie Du. Ich bin nämlich der Luke. und ich bin schon so alt ..." Mit diesen Worten streckte er drei seiner Fingerchen ganz hoch in die Luft. Dann fragte er den Inspektor: "Onkel Lukas, hat Deine Geschichte denn auch ein gutes Ende wie in Mamis Märchen?" Svensson war nun vollends gerührt. Er wischte sich einmal kurz mit dem Hemdsärmel die Tränchen aus seinen Augen, dann holte er tief Luft und erwiderte: "Das erfährst Du später von Deiner Mami, Luke. Und nun geh mal schön weiterschlafen, während wir Erwachsenen uns noch kurz zuende unterhalten, ok?!" Der Junge nickte, dann drückte er den beiden Frauen jeweils einen sanften Kuß auf die Stirn und reichte Svensson zum Abschied die Hand, bevor er wieder still und artig in sein Bettchen verschwand.

Der Inspektor stand auf und schloß die Tür hinter ihm. Dann kehrte er hinter die Couch zurück, wobei er sich auf dem Bärenfell vorm Kamin aufstellte und seine Notiz erneut entfaltete: "Ich habe hier die alles entscheidende Aussage des Zugbegleiters von damals, von jenem Nachmittag, als Steven Napolitani gewaltsam zu Tode kam. Der Kernsatz dieser Aussage lautet ..." Für einen Augenblick verstummte all das Schluchzen und Weinen der beiden zusammengekauerten Frauen. Sie erhoben langsam ihre Häupter und hielten sich engumschlungen, während Svensson fortfuhr: "Die Aussage lautet also wortwörtlich: 'Ich sah nichts Auffälliges. Gar nichts ...'" Damit zerknüllte der Inspektor seinen Zettel und warf ihn achtlos auf die bereitgelegten Holzscheite im kalten Aschebett des Kamins. Verdutzt sahen sich die beiden Frauen in die Augen. Das war alles? Das war die ganze Aussage? Was um alles in der Welt sollte denn das bitteschön aussagen? Svensson trat ein paar Schitte an die Couch heran und streckte den beiden Damen die Hand entgegen: "So, das wars. Ich hab mich ganz offensichtlich all die Jahre getäuscht und wollte mich einfach bei Ihnen entschuldigen - für den falschen Verdacht und die Unannehmlichkeiten, die ich Ihnen damit verursacht habe". Dann verabschiedete er sich sehr rasch und ließ sich wortlos von den zwei Frauen noch bis zum Tor begleiten, von wo aus er auf seinem Fahrrad ungewohnt schnell davonfuhr.

Noch eine Weile schauten ihm Jane und Cathrin nach, bevor es sie trotz des warmen Abendlufthauchs ein wenig fröstelte und sie sich - immer noch Arm in Arm - wieder ins Wohnzimmer begaben. Jane war die Erste, die ihre Fassung wiedererlangte. Sie schaute noch einmal nach ihrem schlafenden Sohn, dann beschloß sie, für Cathrin und sich das Kaminfeuer noch einmal zu entfachen. An Schlaf war für die Beiden nach all der Aufregung eh nicht mehr zu denken. Als Jane jedoch zurück ins Wohnzimmer kam, stand Cathrin mit fragenden Blick vorm Kamin und hielt ihr Svenssons zerknüllten Notizzettel entgegen, den sie dabei zwischen ihren zitternden Händen immer wieder sorgsam glattstrich. Jane nahm das Blatt an sich und las dann halblaut nocheinmal den vollständigen letzten Satz in der Aussage des Zugbegleiters vor: "Ich sah nichts Auffälliges. Gar nichts ... Außer ZWEI FRAUEN AM ZUG." ...

EPISODE 17: KURSÄNDERUNGEN

Am nächsten Morgen meldete sich die Sonne mit ihrem strahlendsten Lächeln zum Tagdienst zurück. Es schien fast so, als hätte sie all den finsteren, grauen Regenwolken heute extra einen Tag frei gegeben. Nur ein paar kleine, niedliche Schäfchenwolken ließen sich am leuchtendblauen Himmel andächtig hin und her treiben von einem mild wehenden Lüftchen, welches gleichzeitig dafür Sorge trug, daß es Mensch und Natur nicht zu heiß wurde unter den Wärme verströmenden Strahlen jener goldigen Gestalt mit ihrem himmlischen Körper. Die Vögel in der Luft revanchierten sich für diesen wundervollen Tagesbeginn mit einem virtuosen, perfekt aufeinander abgestimmten Singkonzert, zu dem die Zweige an den Bäumen sich scheinbar langsam im Takt wiegten. Wenn es einem nun noch gelang, den Lärm der Großstadt für einen Moment aus seinem Kopf auszublenden und sich stattdessen ganz auf das gerade im Radio gespielte "Morning Has Broken" von Cat Stevens einzulassen, geriet man nahezu unweigerlich in eine feierlich-euphorische Stimmung, die einen förmlich dazu trieb, seinem Schöpfer, der auch der Erschaffer dieser ganzen faszinierenden Welt war, aufs Innigste Dank zu sagen.

Und so faltete denn auch Inspektor Svensson am offenen Fenster seines Büros in einem Augenblick der Andacht und des staunenden Schweigens seine Hände ineinander und schickte leise für sich ein kleines Dankgebet gen Himmel: "Herr, Dir verdanke ich meine Geburt und mein Leben. Dir verdanke ich mein Kind und die Frau an meiner Seite sowie all die lieben Menschen, die mir nahestehen. Dir allein ist es zu danken, daß ich jeden Morgen meine Augen erneut aufschlagen und am Abend mein müdes Haupt in sicherer Obhut wieder zur Ruhe legen kann. Du hast all das geschaffen, was mich glücklich macht. Du hilfst mir aber auch, mit dem umzugehen, was mich traurig und wütend macht. Du gibst mir Gelassenheit und Ruhe. Und Du schärfst immer wieder meinen Sinn nach Gerechtigkeit und schenkst mir die Erkenntnis dessen, was richtig und was falsch ist. Und so laß mich auch an diesem Tag nicht nach meinem menschlichen Ermessen, sondern vor allem nach Deinem göttlichen Willen fragen und handeln, damit mein Tagwerk Deiner würdig sei. Amen!" Eine Sekunde lang senkte Lukas Svensson ehrfürchtig sein Haupt, dann erhob er seinen Blick noch einmal tief ein- und ausatmend und schloß das Fenster wieder.

Im gleichen Augenblick, da er das Fenster verschloß, öffnete sich eine Tür - die Tür seines Büros. Es war Crawler, der eine Sekunde später - wieder einmal ohne anzuklopfen - in sein Büro stolzierte. Statt eines höflichen Guten Morgens meinte er nur kurz: "Sie sollen in einer halben Stunde beim Boss erscheinen zum morgendlichen Rapport. Es gibt ein paar wichtige Neuigkeiten, die Ihre Anwesenheit unbedingt erforderlich machen. Unbedingte Pünktlichkeit setzt der Chef natürlich voraus! Und jetzt muß ich Chefinspektor Wannabe rasch noch einen Espresso aus der Kantine besorgen, er wartet nämlich ebenfalls gar nicht gern!" Und damit hatte er auch schon wieder auf dem Hacken kehrt gemacht und die Bürotür hinter sich geräuschvoll ins Schloß fallen lassen. Svensson lächelte nur milde, schüttelte dabei innerlich den Kopf und sprach aus Ermangelung einer anderen Gesprächspartners zu sich selbst: "Jawohl, Inspektor Crawler, Sir! Ach übrigens: Ihnen auch einen wundervollen Guten Tag und einen ruhigen Dienst! Hat mich sehr gefreut, Sie zu sehen, beehren Sie mich doch recht bald einmal wieder. Nein, nicht nötig, daß Sie mir einen Capuccino aus der Kantine mitbringen, ich kenn ja den Weg auch allein, aber danke der Nachfrage. Wie gehts Ihnen eigentlich so. Also mir geht es prächtig. Ein herrlicher Tag ist das, und den lasse ich mir auch von keinem kaputtmachen, keine Sorge ..."

Damit begab sich Svensson an seinen Schreibtisch, setzte sich in seinen Bürosessel und ließ aus gegebenem Anlaß noch einmal den vergangenen Tag vor seinem geistigen Auge Revue passieren, der doch so einiges an Spannung, Dramatik und vor allem an überraschenden Momenten für ihn bereitgehalten hatte. Dabei hatte auch der gestrige Tag ganz zauberhaft begonnen. Er war neben der Frau aufgewacht, mit der er seit nunmehr vier Jahren sein Leben und seit etwa zwei Jahren auch eine gemeinsame Wohnung teilte. Und wenn alles gut ging, dann würde er schon in wenigen Tagen auch sein zukünftiges Leben und seinen Familiennamen mit ihr teilen - Yelena Svensson, geborene Zladkaja. Zladkaja - übersetzt: die Süße. Ein Name, der bei ihr Programm zu sein schien. Sie versüßte mit jedem neuen Tag sein ganzes Leben, sie war der Stoff, aus dem seine Träume waren. Und sie war nicht nur eine Frau - nein, sie war seine Frau, schon jetzt, schon lange, und in kurzer Zeit auch Schwarz auf Weiß auf dem Papier.

Aber Svensson ertappte sich dabei, daß er mit seinen Gedanken abschweifte vom eigentlichen Grund seiner Gedankenreise, wie er es eigentlich stets tat, wenn er erst einmal von seiner Yelena ins Schwärmen geriet. Zurück zum gestrigen Morgen. Da war dann dieser Anruf gewesen, der ihn ans Themseufer beordert hatte, zu der Leiche einer jungen Frau - einer jungen Frau um die Zwanzig, der Svensson schon einmal begegnet war, vor etwa zwei Jahren bei einer großangelegten Drogenrazzia im Hause Spirelli. Die ganze Aktion hatte damals nichts gebracht. Wie zu erwarten war, hatte Spirelli sicher auch irgendwo einen Informanten bei der Polizei, der ihn rechtzeitig warnte. Nur ein kleines, verstört wirkendes Mädchen hatten sie im Haus Spirellis vorgefunden, das halbnackt auf dem Tisch herumtanzte - Francesca Scampi, die Tochter eines hochverschuldeten ehemaligen Obst- und Gemüseverkäufers, dessen Frau vor einem Jahr nach einer mißlungen Operation am Herzen verstorben war. Leider war Francesca schon 18 Jahre, so daß man Spirelli nicht einmal für ihre "Tanzdarbietung" vor all den geifernden alten Geldsäcken, die ihr dabei mit eklig-lüsternem Blick zusahen, zur Rechenschaft ziehen konnte.

Svensson hatte die Kleine damals mit zu sich ins Revier genommen, ihr zu essen und zu trinken gegeben und sie in eine warme Decke gehüllt. Dann hatten sie sich beide zwei Stunden lang intensiv miteinander unterhalten. Was sie sagte war nicht viel, dafür schien sie zuviel Angst zu haben - vielleicht weniger um sich selbst als vielmehr um das, was Spirelli ihrem Vater antun hätte können. Dennoch hatten ihr Gesichtausdruck und ihr Körper ihm damals viel mehr verraten, als ihr wohl bewußt gewesen war. Er hatte gleich die schwarzen Ränder unter ihren verklärt blickenden Augen registriert, das Zittern ihrer - die ganze Zeit über ineiander verhakten - Hände und die zahlreichen feinen Einstiche an Armen und Beinen. Das alles sagte ihm, daß sie seit geraumer Zeit an der Nadel hängen mußte - ein Umstand, mit dem sie Spirelli wohl gefügiger und abhängiger von sich gemacht hatte, und gleichzeitig das - in ihrer scheinbaren Ausweglosigkeit in den gefühllosen Krallen dieses eiskalten Verbrechers - einzige Mittel, den schrecklichen Dingen, die er ihr immer wieder antat, für einige Augenblicke zu entkommmen. Als sie sich dann schließlich von ihm verabschiedet und sich dabei tausendmal bei ihm bedankt hatte, überreichte er ihr seine Visitenkarte mit der Bitte, ihn anzurufen, wannimmer sie Hilfe oder einfach jemanden zu sprechen brauche. Schon damals wußte er, daß sie dieses Angebot wohl nie wahrnehmen würde, allein schon aus Angst vor den möglichen Konsequenzen.

Aber Svensson schweifte schon wieder ab. Er war also gestern nach der Tatortbesichtigung auf einem kleinen unvermeidlichen Umweg ins Yard zurückgeradelt und hatte sich gleich selbst die Akte Francesca Scampi aus dem Archiv abgeholt. Dann gab er die Personendaten an die Gerichtsmedizin weiter, die daraufhin mit der Leichenschau begann. Das Ergebnis war für den nächsten Tag - also heute - zu erwarten. Dann kam die Mittagspause. Allerhöchste Zeit, wie der Magen des Inspektors schon einige Zeit grummelnd zu bedenken gab. Svensson hatte bereits den Mantel überm Arm und war auf dem Weg nach draußen in den Park, als sein Telefon klingelte. Jeder andere hätte einfach so getan, als ob er das nicht mehr gehört habe, aber Svensson nicht. Er hängte den Mantel zurück an den Haken und nahm den Hörer ab. Die Anrufende war Nicole Watson - jene Mitstudentin, die mit neuen Erkenntnissen im Fall Napolitani aufwarten konnte. Erkenntnisse, die den Gedanken an eine Mittagspause mit einem Schlag hinwegfegten, ebenso wie die sanfte Hoffnung auf einen pünktlichen Feierabend. Tja, und dann hatte der Inspektor halt das geliebte Archiv - praktisch seine zweite berufliche Heimat - noch einmal bemüht und sich all die alten Akten des Falles Napolitani kommen lassen. Der Berg auf seinem Schreibtisch wuchs und wurde mit akribischer Sorgfalt von Svensson abgearbeitet, bis er bei Anbruch der Dämmerung eben über jene beiläufige Notiz mit der Aussage des Zugbegleiters stolperte, die alle bisherigen Indizien und Erkenntnisse als letztes fehlendes Puzzleteil scheinbar zu einem nunmehr kompletten Bild des Tathergangs verschmelzen ließ. Wieder hatte sich Svensson aufs Rad geschwungen, um so kurz vor seinem wohlverdienten Ruhestand auch diesen Fall noch zu einem Abschluß zu bringen ... mit der Festnahme der beiden Täterinnen. Eine Festnahme, die sicher viel Staub aufgewirbelt und ihm zweifellos öffentliches Ansehen, vielleicht sogar eine längst überfällige Beförderung, eingebracht hätte - dessen war er sich sicher. Alles schien so klar und erfolgversprechend - und dann kam alles auf einen Schlag ganz anders.

Ein kleiner lockiger Junge trat in Svenssons so fest gefaßten Plan zum krönenden Abschluß des Mordfalls Napolitani. Ein kleines unschuldiges Kind, das seine Mutter liebte und brauchte, jetzt wo es schon ohne Vater aufwachsen mußte - so wie seine Lisa damals ihre Mutter gebraucht hatte, als die Beziehung Svenssons zu ihr in die Brüche gegangen war. Wie konnte er diesem kleinen Jungen, der ihm mit der gleichen berührenden Wärme in die Augen strahlte wie die Sonne vorhin in sein Fenster und der ihn sofort liebevoll "Onkel Lukas" genannt hatte, nun auch noch die Mama fortnehmen. Und in diesem Moment am gestrigen Abend hatte der Inspektor ganz für sich allein aus dem Grunde seines Herzens heraus einen folgenschweren Entschluß gefaßt, der sein bisheriges Leben mit allen Ansichten von Recht und Unrecht für immer auf den Kopf stellte. Nein, er würde diesen Fall nicht lösen, nicht so! Er würde die beiden Frauen, die die Tat zweifellos in einer Ausnahmesituation begangen hatten, nicht der Staatsanwaltschaft ans Messer liefern. Und während er noch innerlich mit sich um diesen Entschluß gerungen hatte, da war ihm eine Begegnung in den Sinn gekommen, die er zwei Jahre zuvor gehabt hatte, und die ihn seitdem einfach nicht mehr losließ ...

Damals waren der inzwischen zum Chefinspektor aufgestiegene Wannabe und sein Gehilfe Crawler ganz nah an der Verhaftung von Spirellis ärgstem Widersacher Makkaroni dran gewesen. Sie hatten von seinen Verstrickungen in Waffen- und Drogengeschäfte in den Staaten Wind bekommen und auch Kenntnisse über einige Kontakte zu dortigen Terrorzellen. Das hatte nun seinerzeit auch die US-Behörden auf den Plan gerufen, die sogleich einen ihrer fähigsten Antiterrorspezialisten aus L.A. an die Themse entsandten. Svensson mußte auch heute noch schmunzeln, wenn er nur an seinen Namen dachte. Nicht nur, daß dieser interessante Zeitgenosse mit seiner ereignisreichen und leidvollen Vergangenheit den gleichen Vornamen hatte wie sein befreundeter Autowerkstattbesitzer Jack. Nein, sein Nachname war es vor allem, was ihn jedes Mal grinsen ließ, denn in Svenssons deutscher Muttersprache war er die Übersetzung für das englische Farmer, und wie ein plumper, unwissender Landwirt, der nur von der eintönigen Arbeit im Stall und auf dem Feld Ahnung hatte, wirkte er nun wirklich nicht, auch wenn er immer wieder erfolgreich gegen die schlimmsten Terrorschurken ins Feld zog und ihre "Stallungen" erstürmte und gründlich ausmistete. Mit diesem imposanten Mann hatte Svensson wochenlang bis zur Ergreifung und Überstellung Makkaronis so manchen gemütlichen Abend angeregt plaudernd in seiner Eckkneipe "My Redemption" verbracht, und eines Abends waren sie auch über seine Einstellung zu Recht, Unrecht, Gerechtigkeit und Gesetzestreue ins Gespräch gekommen. Irgendwann hatte Svenssons Gegenüber dabei dann zu fortgeschrittener Stunde voller Entschlossenheit in seiner Stimme zu ihm gesagt: "Weißt Du was, Lukas, mein Freund. Ich habe in all den Jahren in meinen unzähligen Einsätzen immer nur getan, was nötig war, um unschuldige Leben zu beschützen und zu retten. Man hat mich doch immer wieder gerufen, in der festen Erwartung, daß ich die mir gestellte scheinbar unmögliche Aufgabe erfolgreich zuende bringe. Und das hab ich dann auch getan. Und da es dabei manchmal unumgänglich war, gegen bestehende Gesetze zu verstoßen, habe ich auch das getan. Ich mußte mich schließlich dem Gegner ein Stück weit anpassen, wenn ich erfolgreich sein wollte, denn keiner dieser Verbrecher fragt auch nur eine Sekunde nach Recht und Gesetz. Für sie zählt nur eins: ihr unheilbringendes Ziel zu erreichen. Und das zu verhindern, das war und ist nunmal meine - nein unsere - Aufgabe, Lukas. Die Aufgabe all derer, die dazu angetreten sind, den Menschen zu dienen und sie zu beschützen. Wir stehen dabei natürlich nicht über dem Gesetz, Lukas, das nicht. Und ich übernehme auch gern die Verantwortung für alles, was ich je getan habe, vor Gott und meinem Volk. Sollen sie doch - als die, für die ich all das gemacht hab - am Ende darüber entscheiden, ob ich recht gehandelt habe oder nicht. Eines aber ist sicher: Ich bereue keine einzige meiner Entscheidungen, nicht eine - denn ich habe stets nur versucht, das zu tun, was in der jeweils gegebenen Situation als richtig und notwendig erschien" ...

An diese Worte hatte Svensson gestern abend bei seinem Besuch bei Cathrin und Jane denken müssen. Sie hatten ihn seine ganze sorgsam geplante, flammende Rede, mit der er die beiden Frauen des Mordes zu überführen entschlossen gewesen war, zusammen mit der zerknüllten Aussagenotiz auf den kalten Aschehaufen des längst ausgebrannten Kamins werfen lassen. Und wenn es nach ihm ging, so sollte Beides dort auf ewig ruhen ... Svennson schreckte auf. Sein Telefon klingelte. Er nahm ab und hatte die Gerichtsmedizin am Ohr. Der Chefpathologe teilte ihm das Ergebnis der Untersuchung der sterblichen Überreste von Francesa Scampi mit. Es handelte sich nach eingehender Untersuchung glasklar um Selbsttötung ohne jede Spur eines Fremdverschuldens. Auch diese Akte konnte nun also geschlossen werden, auch wenn Svensson nur allzu gern noch ermittelt hätte, was die junge Frau zu der schrecklichen Tat getrieben hatte. Dabei fiel ihm nun auch das Tagebuch wieder ein, welches immer noch in seiner Schreibtischschublade ruhte. Jenes Büchlein, dem Francesca in den vergangenen mehr als vier Jahren, den letzten ihres jungen Lebens, all ihre geheimen Ängste und Gedanken anvertraut hatte - kurzum all das, was sie den Menschen um sich herum nicht anzuvertrauen gewagt hatte. Er hatte es gestern gefunden - und damit kam er nun noch einmal auf den zuvor erwähnten "unumgänglichen Umweg" zwischen Francescas Fundort und seiner Arbeitsstätte zurück. Denn wenn auch gleich er zu diesem Zeitpunkt den Nachnamen des Mädchens vergessen hatte und all ihre Personendaten, so konnte er sich doch noch ziemlich genau daran erinnern, wohin er sie damals nach der Befragung im Yard nach Hause fahren lassen hatte. Und so hatte der Inspektor schweren Herzens dann auch seiner bitteren Pflicht genüge getan und dem am Boden zerstörten Vater die Nachricht vom Tode seiner Tochter überbracht. Und während Alberto Scampi lauthals weinend auf dem Sofa sitzend um sein Kind trauerte, hatte der Inspektor sich im Zimmer Francescas umgeschaut und dabei in jener abgedunkelten Gruft, die sie scheinbar selbst aus ihrem einst so farbenfrohen Kinderreich erschaffen hatte, unter dem zerwühlten Kopfkissen auch ihren einzig verbliebenen, geheimsten Schatz entdeckt - ein dickes schwarzes Buch randvoll mit Francescas handschriftlichen Aufzeichnungen - und auf der vorletzten Seite jäh beendet mit nur drei fett geschriebenen Sätzen in großen schwarzen Druckbuchstaben: "Dies ist mein letzter Tag auf dieser schrecklichen Welt! Wein nicht um mich, Papa! Alles wird gut, denn ich bin ab jetzt bei Mama!" Der Inspektor hatte Alberto Scampi diesen Eintrag gezeigt. Und der erschütterte Vater hatte sich dafür mit tränenschwerer Stimme bedankt und nur kurz genickt auf die Frage Svenssons, ob er das Büchlein mitnehmen dürfe, worauf es zuerst in seiner Mateltasche und später in seinem Schreibtisch verschwand. Von dort wollte es Svensson nun grad ans Tageslicht zurückholen, als er bei einem flüchtigen Blick zur Uhr erneut aufschrak.

Tief in all seine Gedanken versunken, hatte er gar nicht bemerkt, daß die dreißig Minuten bis zu seinem Termin bei Freakadelly fast um waren. Hastig verließ er das Büro und fuhr mit dem Fahrstuhl ganz nach oben. Im Vorzimmer des Büros mit der Nummer 2009 vermißte der Inspektor zunächst einmal Freakadellys stets freundliche Chefsekretärin Claudia, aber dann erinnerte er sich, daß sein Freund George unten an der Rezeption ihm gestern beim Verlassen des Gebäudes ja noch erzählt hatte, die Sekretärin des Chefs habe eine böse Erkältung mit Husten, Schnupfen und einem schrecklichen Brummschädel erwischt, welche sie wohl einige Zeit außer Gefecht setzen und daran hindern würde, ihrer geliebten schreibenden Tätigkeit bei Freakadelly nachzugehen. So betrat Svensson schließlich nach kurzem Anklopfen das eigentliche Chefbüro, wo er schon sehnlichst erwartet wurde. Und das nicht nur von Chief Superintendent Freakadelly höchstpersönlich, sondern auch von Chefinspektor Wannabe und seinem Kaffeeholer Crawler, die ihn bei seinem Eintreten kaum eines Blickes würdigten. Svensson begrüßte die drei Herren freundlich, obgleich er - wie erwartet - nur vom Boss selbst überhaupt eine Antwort bekam. Dann setzte er sich auf den letzten freien Stuhl. Wannabe räusperte sich kurz und meinte schlicht: "Nun, da ja alle da sind, können wir dann wohl auch loslegen! Zeit ist schließlich kostbar in unserem Beruf, nicht wahr?! ... Also: Gestern abend gegen 22 Uhr verschaffte sich jemand gewaltsam durch das Niederschlagen der beiden Wachen am Haupttor Zugang zum Anwesen von Salvatore Spirelli. Der Hausherr, der gerade von einem Konzertbesuch in der Royal Albert Hall zurückgekehrt war, wurde daraufhin von dem Eingedrungen im Moment des Aussteigens aus seinem schwarzen Rolce Royce kaltblütig erschossen, mit sage und schreibe sechs gezielten Schüssen aus einer mitgeführten Walther PPK - einer Selbstladepistole deutscher Herkunft. Von den sechs Schüssen war bereits der zweite sofort tödlich. Der Täter wurde von den Bediensteten des Herrn Spirelli noch am Tatort festgenommen. Es handelt sich bei ihm um den italienischen Migranten ... Crawler ... Hey, Crawler, schlafen Sie? Wie war noch gleich der Name des Täters?" Crawler, der sich in seiner kurzen Unaufmerksamkeit peinlich ertappt fühlte, kramte aufgeregt in seiner Hosentasche und förderte dann freudestrahlend eine zerknüllte Notiz zutage, von der er sofort eifrig mit feierlicher Stimme abzulesen begann: "Alberto Scampi, 47 Jahre, arbeitslos ..." Svensson fiel dem Strahlemann ins Wort: "Scampi? Alberto Scampi?! Aber das ist der Vater der kleinen Francesca, deren Leiche wir gestern früh aus der Themse geholt haben ..."

Hier meldete sich nun Wannabe in die Unterhaltung zurück: "Ja, das ist ja alles gut und schön, Svensson. Dann schicken Sie bitte die vollständigen Akten des Falles nachher gleich in das Büro von Inspektor Crawler, der sie dann für mich durchsieht". Crawler nickte eifrig, auch wenn Wannabe gar nicht daran gedacht hatte, ihn in dieser Angelegenheit überhaupt auch nur nach seiner Meinung zu fragen. Schließlich hatte Crawler als sein Untergebener eh zu tun, was sein Vorgesetzter verlangte. Und so fuhr er ohne Umschweife in seiner Selbstdarstellung fort: "Aber nun zurück zu meinem Fall. Der Wagen, in dem Spirelli starb, steht jedenfalls seit heute morgen in der Garage der Kriminaltechnik hier im Yard. Und da wir heute Freitag haben, wird es vor Montag früh auch keine Untersuchung geben. Somit erwarte ich auch erst am Dienstagmorgen die abschließenden Ergebnisse. Und für Dienstagnachmittag hab ich schon mal eine Pressekonferenz einberufen, bei der ich den Fall Spirelli in der Öffentlichkeit noch einmal neu aufrollen werde - und damit auch den, meiner Meinung nach mit Spirelli und seinen dunklen Geschäften eng im Zusammenhang stehenden - bisher ungelösten Mordfall des ... Crawler, wie hieß dieser Bänker damals nochmal? Der mit den 24 Messerstichen im Zugabteil?" Crawler zückte erneut den Notizzettel und verkündete stolz: "Napolitani! Steven Napolitani, Sir!" Wannabe nickte zufrieden: "Ja, genau Napolitani! Denn jetzt, wo Spirelli tot ist und keinem mehr Furcht einflößen kann, werden vielleicht einige Leute, die damals etwas gesehen oder gewußt und bis dato geschwiegen haben, reden. Da bin ich mir ziemlich sicher. Bestimmt finden sich durch meinen Fernsehaufruf ein paar neue Zeugen, die endlich Licht ins Dunkel dieser blutigen Schweinerei bringen. Und dann werde ich auch diesen Fall lösen - der immer noch als dunkler Fleck auf meiner sonst so hundertprozentigen Fahndungserfolgsgeschichte klebt - und auf der Karriereleiter eine weitere Stufe erklimmen, so wahr ich Wannabe heiße!"

Freakadelly sah zu Svensson herüber, der plötzlich ganz still und zusammengesunken mit kalten Schweißperlen auf der Stirn in seinem Stuhl kauerte. Er goß dem Inspektor rasch ein Glas Wasser ein und überreichte es ihm besorgt mit den Worten: "Ist Ihnen nicht gut, Inspektor?! Trinken Sie mal was. Und dann sollten Sie sich die letzten paar Tage vor ihrer Pensionierung und ihrer Eheschließung vielleicht doch frei nehmen. Überstunden zum Abbummeln haben sich bei Ihnen eh genug angesammelt". Svensson erholte sich langsam wieder von dem Schock, den Wannabes Ausführungen in ihm ausgelöst hatten. Ja, mittlerweile konnte er dieser ungeahnten Entwicklung sogar etwas Positives abgewinnen. Zuerst hatte er ja einfach nur befürchtet, auf den Fernsehaufruf könne sich jene Nicole Watson nun auch bei Wannabe melden und ihre Aussage wiederholen. Selbst Wannabe würde dann unweigerlich auf Jane stoßen und irgendwann wohl oder übel eins und eins zusammenzählen. Aber diesen Gedanken hatte Svensson inzwischen beiseite geschoben. Nein, es war noch mehr! In seinem Hirn hatte er in den letzten Sekunden einen richtigen Plan ausgearbeitet, der - geschickt ausgeführt - Cathrin und Jane mitsamt dem kleinen Luke weiterhin unbehelligt ließ und der Spirelli - wie von Wannabe und Freakadelly von Anfang an beabsichtigt - postum auch für diesen Mord ans Messer liefern würde. Ja, genau: Ans MESSER! ... Und je länger der Inspektor darüber nachdachte, desto gerechter erschien ihm diese Lösung. Schließlich war Spirelli zum einen zeitlebens ein skrupelloser Mistkerl gewesen. Zum zweiten war er tot, so daß ein Mord mehr oder weniger auf seinem Schuldenkonto für ihn eh nicht mehr ins Gewicht fiel. Und - zu guter Letzt - wurde damit auf gewisse Weise nachträglich auch der "Mord" an Francesca Scampi gerichtet, auch wenn es dem Gesetz nach streng genommen kein direkter Mord gewesen war. Und in diesem Bewußtsein konnte nun auch Svensson ruhigen Gewissens mit den Worten eines sehr guten Freundes von sich sagen: "Ich bereue meine Entscheidung nicht - denn ich habe nur das versucht zu tun, was in der gegebenen Situation als richtig und notwendig erschien".

Dankend nahm Svensson das gewährte Dienstfrei in Anspruch, schüttelte dem Chief Superintendent noch einmal die Hand und verließ dann - während ihm Wannabe und Crawler verdutzt zuschauten - schweigend festen Schrittes das Büro seines Bosses. Er stieg in den Fahrstuhl und fuhr hinab in sein Büro, wo er sogleich Francescas Tagebuch aus der Schublade holte und den Rest des Arbeitstages damit verbrachte, darin zu lesen. Kurz vor Feierabend kramte er seine wenigen persönlichen aus dem Schreibisch in eine seit längerem bereitstehende Pappschachtel zusammen und legte vor dem Verschließen noch das Tagebuch obenauf. Er würde es in den nächsten Tagen persönlich zu Alberto Scampi ins Gefängnis bringen, wo jener momentan in Untersuchungshaft saß. Svensson fand, daß der Vater ein Recht hatte, es zu lesen. Dann schnappte der Inspektor sich seinen Mantel, klemmte die Pappschachtel unter den Arm und verließ - nach einem langen sehnsuchtsvollen Blick zurück - für immer sein Büro, in dem er die letzten 14 Jahre wohl knapp die Hälfte seiner Zeit verbracht hatte. Eigentlich zog es ihn ja sofort zu seiner Yelena nach Hause, aber es gab da wiedermal noch eine Sache, die unbedingt erledigt werden mußte. Und so radelte Svensson erneut mit ruhigem Tritt in die Pedalen in der genauen Gegenrichtung seines eigentlichen Nachhausewegs ... hinein in die einsetzende Dämmerung ...

EPISODE 18: VERDUNKELUNGEN UND LICHTMOMENTE

Der Vollmond schien hell am sternenklaren Abendhimmel und tauchte damit die ganze Landschaft in ein geradezu gespenstisches Licht, so auch jenes riesige Anwesen in der Al-Meida-Street 88. Auf einem Seerosenblatt im Teiche des beachtlichen Vorgartens gab in jenem Zwielicht allein ein einsamer Frosch sein monoton-einsilbiges Konzert. Irgendwann hatte sich dann irgendwo in der Nachbarschaft ein zweiter Frosch als Duettpartner hinzugesellt, worauf beide emsig im Wechsel um die Wette quakten. Und schließlich stimmte auch noch ein streunender Hund mitten auf der Straße seine geheulte Liebesarie an den Mond an. So wenig die einzelnen Gesänge sicher auch miteinander harmonierten, hatte es in seiner Gesamtheit doch etwas Herzergreifendes, wie der Inspektor beim Anschließen seines Fahrrades an der Grundstückumzäunung feststellte. Zumal jene Sinfonie natürlicher Klänge Balsam für Ohr und Seele des scheidenden Beamten waren, nachdem ihm bei seinem Zwischenstop in der - auch um die fortgeschrittene Stunde noch sehr betriebsamen - Autowerkstatt seines Freundes Jack Holmes ganz andere Laute entgegengeschlagen waren. Dennoch war Svensson um jenen spontanen Besuch nicht umher gekommen, brauchte er doch für die Ausführung seines Planes - was den endgültigen Abschluß des Falles Napolitani betraf - unbedingt einen zuverlässigen Helfer.

Daß er dabei sofort auf Jack Holmes kam, war nicht verwunderlich. Neben den gelegentlichen Fahrradreparaturen verband die Zwei eine langjährige Freundschaft, die aus der Zeit herrührte, als jener fleißige und nun so rechtschaffende Mister Holmes noch "Black Jack" genannt wurde - und das gleich aus zweierlei Gründen: Zum einen, weil seine geschickten Hände bereits damals eigentlich immer ölverschmiert waren, zum anderen aber auch, weil in den einschlägigen verräucherten Lokalhinterzimmern beim illegalen Poker nach Mitternacht niemand eine Chance gegen die Fingerfertigkeit dieses ausgebufften Falschspielers hatte. Jack hatte schon damals von seiner eigenen kleinen Werkstatt geträumt, und so zockte er Abend für Abend eifrig, um sich nach und nach das Geld dafür zusammen zu verdienen. Eines Tages war es soweit - es sollte sein letzter Abend und sein letztes Spiel werden. Und doch ahnte "Black Jack" noch nicht einmal annähernd, wie dicht er davorstand, daß sich dieser Vorsatz auf ganz andere Weise erfüllte, als er es sich in seinen kühnen Träumen ausgemalt hatte.

Alles schien wie sonst, Jack hatte eine seiner vermeindlichen Glückssträhnen, die er allerdings wie gewohnt wieder einmal mehr den - mit seinem Spezialring an rechten Mittelfinger - vor Beginn des Spiels unauffällig angebrachten winzigen Lochmarkierungen an den Kartenseitenkanten verdankte, als den allseits so begehrten und doch normalerweise so rar angesiedelten Küssen Fortunas. Wie dem auch sei: In seiner Hand hielt er nun jedenfalls einen satten Royal Flush, während sein Gegenspieler - ein Nordire mit einem stark vernarbten Gesicht, welches laut seinen Angaben aus seiner früheren Untergrundtätigkeit in den Reihen der IRA stammte - "nur" einen Straight Flush hatte, wie Jack unschwer mit geübtem Auge den hauchfeinen löchrigen Punktierungen an dessen Karten entnahm. Das Narbengesicht setzte dabei siegesgewiß sein strahlendes Pokerface auf und erhöhte seinen Einsatz auf 4000 Pfund. Das war genau die Summe, die "Black Jack" noch zum Kauf seiner kleinen Autowerkstatt fehlte, also zog er mit und wollte sehen. Was er dann sah, war allerdings nur das, was er eh schon wußte. Grinsend präsentierte er dem sprachlosen Gegner sein Siegesblatt und griff dann nach dem 8000 Pfund schweren "Jack-Pot".

Doch zu früh gefreut. Das Narbengesicht entdeckte im hellen Spot des grell leuchtenden Oberlichts plötzlich in seiner Verzweiflung die Löcherchen in seinen abgelegten Karten. Er sprang auf und zog einen Revolver aus dem Hosenbund, den er blitzschnell entsicherte, um dann damit mit einem zugedrückten Auge punktgenau auf Jacks Herz zu zielen. In dessen Kopf verschwand von einer Sekunde zur anderen der euphorische Gedanke an die eigene Werkstatt und machte Platz für die angstvolle Erwartung seines nun scheinbar unabwendlichen Lebensendes. "Black Jack" stand noch immer starr vor Schreck, da vernahm er auch schon ein lautes, pfeifendes Geräusch. Doch was da pfeilschnell durch die Luft flog, war keineswegs das erwartete kleinkalibrige Geschoß aus der immer noch auf ihn gerichteten Revolvermündung. Dieses Geschoß hatte ein sehr viel größeres Kaliber, auch wenn es von seiner äußeren Form her einer Patrone schon ein wenig ähnelte. Es war der Helm eines englischen Bobbys, eines Streifenpolizisten, der da durch den Raum zischte und bei seinem Auftreffen dem Narbengesicht die Waffe aus der Hand schlug. Ein Schuß löste sich in diesem Moment zwar doch, aber er landete zunächst an der Deckenleuchte und dann als Querschläger im Oberschenkel jenes kleinen, unscheinbaren und dennoch so mutigen Sergeants namens Lukas Svensson, der zuvor seine Kopfbedeckung allen Dienstvorschriften zum Trotz als Wurfgeschoß mißbraucht und "Black Jack" damit zweifellos das Leben gerettet hatte. Und das alles, obwohl Svensson nur zufällig auf seinem nächtlichen Streifengang in dem Lokal eingekehrt war und sich dann auf der Suche nach der Toilette kurz einmal verlaufen hatte.

Was nach dem Schuß passierte, ging dann alles recht schnell. Der Vernarbte hatte überstürzt das Weite gesucht, Sergeant Svensson war zu Boden gegangen und durch die Wucht des Schußes für einen Augenblick bewußtlos gewesen - und "Black Jack" hatte erst den Pot in seinen Hosentaschen verschwinden lassen und dann Polizei und Rettungsdienst alarmiert. In den kommenden Tagen und Wochen besuchte er seinen Lebensretter immer wieder im Krankenhaus, wo sich rasch eine richtige Männerfreundschaft entwickelte, die all die Jahre überdauerte. Und obwohl sich Jack Holmes stets sicher war, daß der geübte Blick des Streifenpolizisten damals vor seinem beherzten Eingreifen auch das viele Geld auf dem Tisch registriert haben mußte, hatte Svensson nie auch nur ein Wort über dessen Verbleib verloren. Selbst als Jack sich ein paar Wochen nach dem Vorfall von einem angeblichen Lottogewinn seine Werkstatt kaufte, hatte Svensson nur geschmunzelt und gemeint: "Sie sind und bleiben halt ein Glückspilz, Sie mit Ihren flinken Händen!"

Ja, Svensson mußte auch jetzt ein wenig schmunzeln, während er noch immer in Gedanken an damals das Tor zum Anwesen von Cathrin und Jane öffnete. Einen Augenblick später jedoch konzentrierten sich Jacks Gedanken wieder ganz auf seinen Plan, dessen Gelingen ganz und gar von seiner exakten Ausführung bis ins kleinste Detail abhing. Punkt Eins war erledigt: Jack war eingeweiht und hatte erwartungsgemäß eingewilligt mitzumachen. Mehr noch: Er hatte gesagt, daß es ihm eine Ehre sei, sich bei seinem Freund - dem Inspektor - so endlich einmal für die damalige Rettung seines Lebens angemessen revanchieren zu können. Und so waren die Beiden nun in anderthalb Stunden vorm Eingang zum Yard verabredet.

Und damit war es Zeit für Punkt Zwei ... Der Inspektor hatte inzwischen den Gartenweg hinter sich gelassen und drückte nun den Klingelknopf am Eingang der Villa. Cathrin, die ihm einmal mehr im Morgenmantel öffnete, schaute auch diesmal nicht weniger verdutzt auf den späten Besucher als die beiden vorigen Male. Sie bat Svensson herein, wobei er auf ihr Angebot abzulegen nur meinte, das sei nicht nötig, denn er habe es eilig und bliebe auch gar nicht lang. Im Wohnzimmer traf er dann auf Jane, die im Pyjama vorm Kamin hockte und das Feuer schürte. Auch sie war zuerst ein wenig verblüfft über das erneute Erscheinen des Inspektors, aber dann lächelte sie ihn an und erzählte ihm voller Freude, wie sehr er den kleinen Luke bei seinem letzten Besuch doch beeindruckt habe. Der junge Mann erzähle seitdem andauernd von jenem netten Onkel, dessen Name dem seinen so ähnlich sei. Und dann fragte sie den Inspektor ganz ohne weitere Umschweife frei heraus, ob er nicht in vier Wochen der Taufpate ihres Sohns werden wolle. Einen besseren Bewerber für diese Aufgabe gäbe es in ihren Augen einfach nicht, zumal er ja durch seinen ersten Besuch damals eh schon quasi der Namensgeber des aufgeweckten Jungen geworden sei.

Svensson war so überrascht über diesen Vorschlag, daß er sein eigentliches Anliegen für einen Moment völlig vergaß. Er legte seinen Regenmantel nun doch ab und erzählte sogleich begeistert, was ihm seine Mutter von seiner eigenen Taufe überliefert hatte. Bei der Auswahl seines Taufspruchs hielt der Pfarrer sich damals nämlich einfach an seinen Namen und an sein Geburtsdatum - den 12. Februar. Und so hatte der Geistliche seine Bibel aufgeschlagen und dem kleinen Lukas jenen Spruch aus dem Lukasevangelium Kapitel 12 Vers 2 mit auf den Lebensweg gegeben, der ihm fortan als Leitmotiv für sein privates und berufliches Streben diente: "Es ist nichts verborgen, was nicht offenbar wird, und nichts geheim, was man nicht wissen wird". Stets hatte er in all den Jahren als Polizeibeamter versucht, das Verborgene aufzudecken - koste es, was es wolle. Nur bei seinem letzten Fall war ihm der Preis dann plötzlich einfach zu hoch gewesen ...

Jane bemerkte, daß die Erinnerungen des Inspektors in der Gegenwart angekommen waren und in eine bedrohliche Richtung steuerten, was Cathrin und sie anging. Doch auch Svensson wurde das bewußt, und er kehrte rasch wieder zu dem Bericht von seiner Taufe zurück: "Meine Mutter jedenfalls wollte mir bei meiner Geburt noch einen zweiten Vornamen geben, der dann auch mein Rufname geworden wäre: Georg ... Sie meinte damals zu meinem Vater, Georg Lukas hätte so etwas Besonderes an sich, als könnte daraus einst ein bedeutender Mensch erwachsen. Aber mein Vater hat diesen Vorschlag einfach von vornherein verworfen. Er meinte schlicht und ergreifend, ein Vorname sei genug, und Lukas habe schließlich schon mein Uropa geheißen, der anno 1871 als hochdekorierter Offizier aufseiten der deutschen Truppen ruhmreich gegen die Franzosen ins Feld zog ... Und damit war die Namensdiskussion ein für allemal vom Tisch" ...

Svensson hatte seine Ausführungen gerade beendet, als aus einem der Schlafzimmer im Obergeschoß der Villa ein zartes, weinendes Stimmchen an sein Ohr drang. Offensichtlich hatte ein Albtraum Janes Sohn geweckt, und der rief nun im Dunkeln verzweifelt nach seiner Mama. Jane entschuldigte sich für einen Moment: "Tut mir leid! Ich weiß auch nicht, was er hat. Es ist wohl wieder dieser schlimme Traum, der ihn schon seit Tagen immer wieder heimsucht. Da steht plötzlich dieser große Mann vor ihm, der statt eines Kopfes nur einen schrecklich großen, schwarzen Helm trägt und mit düsterer Stimme schweratmend zu ihm sagt: 'Ich bin Dein Vati, Luke!' Und dann wacht der Junge jedesmal schweißgebadet auf". Mit diesen Worten verschwand sie schnellen Schrittes aus dem Wohnzimmer und begab sich hinauf zu Luke ...

Der Inspektor sah nun den Moment gekommen, Phase Zwei seines Plans einzuleiten. Er trat ganz dicht an Cathrin heran und flüsterte: "Hören Sie, Kate. Ich hab nicht viel Zeit! Jane muß das hier nicht mitbekommen, sie hat - glaube ich - im Moment genug um die Ohren mit ihrem kleinen Sohnemann. Aber was ich vorhabe, duldet keinen Aufschub mehr und benötigt vor allem ihr Vertrauen und ihre Mithilfe. Sind Sie dazu bereit?" Cathrin zögerte. Noch immer verstand sie nicht, was den Inspektor dazu bewegt hatte, Jane und sie trotz seines offensichtlichen Wissens um ihre gemeinsame Täterschaft nicht auffliegen zu lassen. Aber letztlich hatte sie auch nichts zu verlieren. Er wußte doch eh alles. Was blieb ihr also weiter übrig, als ihm zu vertrauen und zu hoffen, daß er sie Beide am Ende nicht doch noch ins Gefängnis bringen würde. Und so nickte sie ihm schließlich zaghaft zu. Svensson nahm behutsam ihre Hand und fuhr dann mit seinen Ausführungen fort: "Cathrin, in meiner Dienststelle will man den Fall ihres Mannes noch einmal neu aufrollen. Dabei wird man dann gewiß auf dieselben neuen belastenden Indizien gegen Jane und Sie treffen, die auch ich herausgefunden habe. Das gilt es zu verhindern. Wir müssen der Polizei einen anderen Täter liefern - und dieser tote skrupellose Mafiosi Spirelli wäre dafür ideal. Allein, es gibt praktisch nichts, was seine Person in ausreichendem Maße mit dem Mord an ihrem Mann in Verbindung bringt. Es sei denn, wir würden ..." Cathrin klebte voller Spannung an den Lippen Svenssons, der kurz nach hinten schaute, ob Jane nicht etwa schon zurückkehren würde, und dann ergänzte: "... wir würden in seinem Wagen, der zur Untersuchung im Yard steht, die Tatwaffen finden - jene beiden Küchenmesser von damals. Kate, ich weiß es natürlich nicht hundertprozentig, aber ich hoffe, daß mich meine Menschenkenntnis auch diesmal nicht trübt ... Sie haben die beiden Messer doch damals nicht einfach weggeworfen, oder?! Sie haben sie doch noch, irgendwo hier auf dem Grundstück oder in der Nähe, oder? Sagen Sie mir bitte, daß ich mich da nicht irre!"

Flehend schaute der Inspektor zu Cathrin hinüber, die einen Augenblick später zu seiner Erleichterung erneut vorsichtig nickte und ihm dann zögernd entgegenhauchte: "Ja, ich hab sie noch! Ich hatte Angst, daß - wenn ich sie irgendwo entsorge - sie irgendwer finden würde, und uns die Messer sozusagen zuletzt selbst ans Messer liefern könnten ..." Dann lief sie ohne ein weiteres Wort weinend aus dem Haus in den Garten, wo sie sogleich am Rande des Teichs mit bloßen Händen ein Loch in die Erde grub, aus dem sie einige Sekunden später eine Plastiktüte mit zwei blutverkrusteten Schälmessern ans Licht der Vollmondnacht beförderte. Svensson, der ihr lautlos gefolgt war und ihr die ganze Zeit bei ihrer nächtlichen "Gartenarbeit" über die Schulter geschaut hatte, nahm ihr die verpackten Tatwerkzeuge sogleich aus der Hand und ließ sie in seiner Hosentasche verschwinden. Er lief noch einmal zurück ins Wohnzimmer, wo er eilig seinen Regenmantel schnappte, und verabschiedete sich dann an der Haustür mit einem beruhigenden Schulterklopfen von der gerade ins Haus zurückkehrenden Cathrin mit den Worten: "Alles wird gut! Vertrauen Sie mir! Ich meld mich, wenn alles geklappt hat! ... Und liebe Grüße an Jane! Ich nehme das Angebot für die Taufpatenschaft sehr gern an! Gute Nacht!"

Innerhalb nur einer dreiviertel Stunde langte Svensson samt seinem Drahtesel vorm Eingang des Yard an - neue Bestzeit! Und obwohl er eigentlich erst in einer Viertelstunde hier mit Jack verabredet war, sah er ihn schon von weitem auf einer Bank in der Nähe sitzen und warten. Svensson schloß sein Fahrrad kurzerhand an der Bank an, begrüßte Jack freundlich und sagte dann kurz: "Nicht wundern! Einfach mitspielen!" Blitzschnell ergriff er daraufhin Jack an beiden Armen und ließ ohne Zögern an dessen Handgelenken sein zweites Paar Handschellen klicken. Jack war irritiert, damit hatte er jetzt nicht gerechnet. Der Inspektor erspähte inzwischen im Halbdunkel auf eine kleine - auf der Bank abgestellte - Hebammentasche. Dann sah er Jack fragend an: "Da ist das Werkzeug drin?!" Jack nickte kurz, und schon nahm Svensson die Tasche in seine rechte und Jacks Kragen in seine linke Hand. Dann trieb er den Freund ein wenig unsanft dem Wärterhäuschen am Eingang von New Scotland Yard entgegen.

Yusuf, der heute wie geplant Nachtschicht hatte, kam den Beiden hinter der Schranke bereits entgegen. Auch er war sichtlich überrascht. Was wollte der Inspektor denn so spät noch hier, noch dazu mit einem Festgenommenen? Um Aufklärung bemüht, sprach er Svensson an: "Ey, Inspektor! Was machst Du denn so spät noch hier und wer is der Typ da bei Dir?" Und mit einem Blick auf die Tasche in Svenssons Hand ergänzte er: "Is der Gynäkollege, oder wie?" Svensson schmunzelte ihn an: "Das ist nur ein kleiner durchgeknallter Spinner. Aber was solls? Er soll eine Aussage machen, und die nehm ich jetzt auf, eh er mir morgen wieder entwischt ist, weiß Du?!" Yusuf gab sich verstehend: "Alles klar, Chef! Das is voll korrekt, daß Du auch so spät noch volle Kanne im Dienst bist!" Damit streckte er dem Inspektor die erhobene Hand entgegen, und Svensson gab ihm Fünf - worauf Yusuf die Schranke öffnete und die beiden Männer freudestrahlend passieren ließ.

Der Hof des Yard war gut beleuchtet, schließlich wurde hier ja auch nachts gearbeitet. Aber es gab halt dennoch ein paar Ecken und Wege, die von der nahezu kompletten Ausleuchtung verschont blieben. Svensson kannte sie von seinen eigenen Nachtdiensten nur zu gut und wußte, sie für sich und sein Vorhaben zu nutzen. Und so offnete er Jacks Handschellen wieder und schlich dann mit ihm gemeinsam in gebückter Haltung im Schutze der Dunkelheit in Richtung der Garage der Kriminaltechnik. An deren verschlossener Hintertür konnte Jack gleich das erste Mal sein lang nicht mehr angewandtes Können demonstrieren. Er warf nur einen kurzen Blick auf das Türschloß, angelte dann treffsicher den passenden Dietrich aus der mitgeführten Hebammentasche, und öffnete in Sekundenbruchteilen das so sichere Sicherheitsschloß. Drin waren sie schon mal. Jack entnahm seiner Hebammentasche eine Taschenlampe und schaltete sie ein. In ihrem Lichtkegel war der auffällige Rolce Royce Spirellis schnell ausgemacht und dank Jacks Sachverstand ebenso rasch dessen Kofferraum geöffnet. Svensson zog indes zwei Gummihandschuhe aus seiner Manteltasche und die Tüte mit den blutigen Schälmessern aus der Hosentasche hervor. Er stülpte sich die Gummihandschuh über und holte dann die Messer aus ihrer Plastikumhüllung. Nun zog er sein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und wischte damit gründlichst beide Messer ab, wobei er besonderes Augenmerk auf die Griffe legte. Fingerabdrücke konnte er bei dieser Aktion absolut nicht gebrauchen - weder seine eigenen, noch die von Cathrin oder Jane. Schließlich steckte er sein Taschentuch wieder in die Hose zurück und legte die beiden Messer - ein wenig versteckt und dennoch gut zu finden - in der hintersten Ecke des Kofferraums ab.

In diesem Moment vernahmen Svensson und Jack ein Geräusch. Beide Männer hielten den Atem an. Jack schaltete die Taschenlampe aus, und beide gingen ruckartig in Deckung. Was war das? Ein Wachmann auf seinem Rundgang? Ein Mitarbeiter, der etwas vergessen hatte? Oder hatte man sie etwa entdeckt? Mit zittrigen Händen schaltete Jack die Lampe wieder ein und leuchtete vorsichtig jeden Zentimeter der großen Garagenhalle aus. Irgendwann entdeckten sie die Quelle des Geräusches ... es war eine Ratte, die vermutlich durch die nur angelehnte Tür von draußen hereingehuscht war und nun - ängstlicher als die beiden Männer zusammen - im blendenden Lichtschein zügig den Rückweg antrat. Svensson und Jack waren erleichtert. Auch für sie war es nun höchste Zeit zum Rückzug. Und so schloß der Inspektor vorsichtig die Kofferraumklappe wieder, die Jack anschließend ebenso fachmännisch wieder verschloß wie beim Hinausgehen die Tür des Garagengebäudes. Gebückt schlichen sie zurück über den Hof, von wo sie sich ohne Umwege schleunigst in Richtung Ausgang aufmachten. Yusuf verabschiedete die beiden Männer grinsend: "Ey Alder, schönen Abend noch! Und Du mit der komischen Babydoktortasche da, Du legst Dich besser nicht mehr mit Inspektor Lukas an, sonst kriegst Du mächtig Ärger mit Yusuf, ich schwör!"

An der Sitzbank, wo Svensson sein Fahrrad ebenso rasch von den Handschellen befreite, wie er es vorhin im Hof des Yard mit Jack getan hatte, verabschiedete sich nun auch der Inspektor gebührend von seinem Mitverschwörer Jack. Er dankte ihm mit Tränen in den Augen für seinen illegalen und nicht ganz ungefährlichen Einsatz und umarmte ihn dann noch einmal ganz fest, bevor sich die Wege der Zwei wieder trennten. Der Weg des Inspektors führte nun endlich nach Hause zu seiner Yelena. Und ihm fiel dabei ein riesengroßer Stein vom Herzen, denn sein Plan schien hundertprozentig geklappt zu haben. Lediglich Wannebe mußte jetzt noch aus dem dezent platzierten Hinweis die richtigen Schlüsse ziehen, aber das sollte wohl selbst jemand wie er hinbekommen. Erleichtert wollte er sich mit seinem Taschentuch die schweißnasse Stirn wischen, aber zu seinem Entsetzen war es nicht in seiner Hosentasche. Hatte er es etwa neben dem Wagen Spirellis verloren? Das konnte er sich irgendwie nicht vorstellen! Er war sicher, es wieder ordentlich eingesteckt zu haben. Und irgendwo auf dem Rückweg? Egal, er konnte nicht noch einmal zurück, ohne daß es unnötiges Aufsehen erregen würde. Er konnte einfach nur beten und hoffen, daß das Tuch nicht in falsche Hände geriet. Und so lenkte er sich von all den düsteren Gedanken ab, indem er nur umso schneller in die Pedalen trat.

Gegen Mitternacht erreichte er endlich die gemeinsame Wohnung, wo Yelena schon sehnsüchtig auf ihn wartete und ihn nach einem innigen Kuß gleich mit einer Überraschung empfing. Im Flur stand nämlich ein Paket für ihn. Und während Yelena es ihm aufgeregt entgegenhielt, sagte sie: "Aus Amerika, Los Angelas, von ein gewisser Jack ..." Svensson nickte und strahlte dabei übers ganze Gesicht: "Ah, dann weiß ich schon! Ich hab ihn vor ein paar Tagen angerufen und ihn gefragt, ob er zu unserer Hochzeit vorbeikommt. Leider ist er dienstlich verhindert. Die haben da schon wieder mal so eine extrem ernstzunehmende Terrorwarnung! Aber er hat mir versprochen, mir ein Geschenk zu schicken ... Das ist es dann wohl! Mal sehen ..." Mit diesen Worten riß der Inspektor dem Paket die packpapierne Hülle vom Leib und entnahm den Flurschränkchen einen Brieföffner, mit dem er gekonnt das Klebeband auf der Oberseite durchtrennte und diese dann zu beiden Seiten hochklappte. Dann beförderte er erwartungsvoll den Inhalt des Pakets zutage: Ein kleines Schmuckkästchen und einen Brief". Svensson entfaltete das Paier und las laut vor: "Lieber Lukas! Entschuldige, daß ich nicht selbst zu Deiner Hochzeit kommen kann. Dabei hätte ich Deine bezaubernde Frau gern einmal selbst kennengelernt, wo Du mir bei unseren Telefonaten in den vergangenen Jahren immer soviel von ihr vorgeschwärmt hast. Aber Du weißt ja selbst, wie unser Job ist. Für Privatleben und Freunde bleibt da meist recht wenig Zeit. Nichts desto trotz hab ich Dir - oder besser Euch beiden - aus gegebenem Anlaß gern eine Kleinigkeit schenken wollen. Etwas, was Du sicher gut gebrauchen kannst, Herr Inspektor a.D., und Deine Yelena vielleicht sogar noch viel mehr zu schätzen weiß. Auf den ersten Blick ist es nur ein einfacher silberner Armreif, aber dahinter verbirgt sich eins dieser kleinen technischen Wunderwerke unserer Zeit. Das Schmuckstück enthält nämlich einen Minipeilsender, über den Dich Deine Frau auf eventuellen außerehelichen Einsätzen dann immer und überall ausfindig machen kann, übers Internet oder Handy. Und da ich ja weiß, daß Yelena in diesen Dingen deutlich bewanderter ist als Du, kannst Du ihr nun praktisch keine einzige Minute mehr entkommen. Meinen Glückwunsch, Lukas! Und viel Glück für Deine Ehe! Dein Freund Jack!"

Svensson schüttelte den Kopf und sprach dann zu sich selbst: "Ach Jack! Schade, daß Du nicht hier sein kannst, ich hätt Dich so gern mal wieder gesehen und mit Dir geplaudert". Und mit einem Seufzer fügte er hinzu: "Naja, da kann man nichts machen! Wenn er doch mal Lust und Zeit hat, mich zu besuchen, dann kann er mich ja jetzt jederzeit über das Netz orten". Und damit entnahm er dem beigefügten Kästchen den beschriebenen Armreif und legte ihn sich an. Er wollte ihn gerade voller Stolz Yelena vorführen, als das Telefon im Wohnzimmer klingelte. Svensson war schon im Losstürmen begriffen, aber Yelena winkte lächelnd ab: "Laß nur, ich gehen schon dran!" So verschwand sie fürs Erste im Wohnzimmer, wo Svensson sie den Hörer abnehmen und sagen hörte: "Ja, hier Anschluß Svensson und Zladkaja, aber bald schon Svensson und Svensson. Wer sein da?" Einige Augenblicke wartete Yelena scheinbar auf eine Antwort, dann fragte sie nochmals: "Hallo, wer sein denn da zu nachtschlafendes Zeit?" Jetzt vernahm Svensson im Flur ein leises, fremdländisch anmutendes Gebrabbel, das offenbar dem Telefonhörer entstammte und schon nach wenigen Momenten wieder abrupt endete. Yelena stellte das Mobilteil ruckartig auf die Ladestation zurück und kehrte ein wenig abwesend wirkend in den Flur zurück. Svennson schaute sie einen Augenblick an, wie sie so mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern dastand und einfach nur vor sich hin starrte, dann fragte er: "Was ist denn Liebes? Was Schlimmes?" Yelena hob kurz den Kopf und schaute ihren Lukas dabei ein wenig entgeistert an: "Was? Wie? ... Nein, ach, nichts! Nur falsches verbunden!" Irgendwie nahm ihr Svensson das nicht so recht ab, dafür wirkte sie einfach mit einem Male zu verändert. Aber andererseits hatten sie keine Geheimnisse voreinander, also hätte sie ihm sicher schon gesagt, wenn es etwas Ernstes gewesen wäre. Vielleicht war es ja wirklich nur jemand, der sich verwählt hatte, und ihre plötzliche Stimmungsänderung hing mit etwas ganz anderem zusammen - beispielsweise mit den Aufregungen der immer näherrückenden Hochzeit.

Und genau das schien tatsächlich der Grund zu sein, denn einen Augenblick später kam ihm Yelena schulterzuckend mit einem ganzen Stapel Formulare entgegengelaufen. Sie verdrehte kurz die Augen und meinte dann: "Svens Sohn Lukas, können Du das alles ausfüllern für uns? Ich stehen mit Rechts-Schreibung und Gramatik noch immer auf - wie Du doch immer sagen - Kriegerfüße??" Svensson lächelte: "Kriegsfuß, mein Schatz, Kriegsfuß!" Yelena nickte eifrig: "Ja, richtig - Kriegsfuß! - Aber ich wollen das ändern bald. Ich haben mich angemeldet für Sprachkurs in Abendschule, von nächste Woche ab. Bald ich werden alles besser sprechen können und keinen Fehler machen mehr! Versprochen! So wahr ich Dich lieben ohne Ende!" Damit ließ sie all die Formulare einfach auf den Fußboden segeln und hüpfte dann ihrem Lukas um den Hals. Eine halbe Stunde später lagen sie zusammen engumschlungen in ihrem Bett, und Lukas flüsterte ihr zärtlich ins Ohr: "So ganz ohne Fehler ist aber dann eigentlich auch schade! In ein paar Deiner süßen Fehlerchen hab ich mich nämlich inzwischen schon fast genauso sehr verliebt wie in den zauberhaften Akzent und ... in Dich!" Und damit verschmolz sein Mund mit dem ihren für einen schier endlosen Moment in einem leidenschaftlichen Kuß, der zudem in einem äußerst intensiven Spiel der Zungen gipfelte. Als sich ihre Lippen endlich wieder voneinander loszureißen wagten, hauchte Yelena erschöpft: "Was Du denn genau meinen damit, Liebes Gutes?" Und Svensson mußte gar nicht lange nachdenken, um ein passendes Beispiel zu finden für einen besonders süßen kleinen Fehler in ihrer Aussprache: "Also, am meisten mag ich, wenn Du sexy sagen möchtest, und am Ende kommt dabei nach allem Üben doch immer nur eines raus ... nämlich: saxi!" Das Lachen, in das Yelena daraufhin ausbrach, wirkte ansteckend auf Lukas. Und so kicherten sie beide minutenlang um die Wette, während ihre Hände einander gleichzeitig streichelnd liebkosten. Und später - schon im Halbschlaf bemerkte Yelena in Lukas Armen versunken schließlich noch einmal ganz leise: "Oh, wie schön! Bald ich sein verheiratet mit saxiest Mann auf ganzes Erden, mein Svens Sohn Lukas! Ich Dich lieben!" Und ihr Lukas murmelte zufrieden zurück: "Ich Dich auch!" ...

EPISODE 19: ENDSTATION GEFÄNGNIS

Unter dem zarten, hellen Läuten eines Glöckchens öffnete sich geräuschvoll die Fahrstuhltür und gab nach dem Heraustreten die Sicht frei auf den langen, vom künstlichen Neonlicht hell erleuchteten Flur mit dem roten Teppich und den zahlreichen Türen rechts und links des schmalen Ganges. Fast gleichzeitig trat aus jeder der neun Türen je eine schick zurechtgemachte Dame mit einem kleinen Blumenstrauß heraus, wobei der scheidende Inspektor in der Dame in der ersten - dem Fahrstuhl gegenüberliegenden Bürotür - sofort die attraktive junge Sekretärin Sabrina wiedererkannte, die ihm einmal mit seinem widerspenstigen Organiser weitergeholfen hatte, als der damals eine Nachricht von dem aufgeblasenen Wannabe einfach nicht preisgeben wollte. Er trat einen Schritt auf sie zu und sie auf ihn, und dann überreichte sie ihm mit einem kleinen verstohlenen Tränchen im Auge ihren Blumenstrauß mit den Worten: "Lieber Inspektor Svensson! Dieser kleine Empfang hier war meine spontane Idee. Über all die Jahre waren sie einer der wenigen Beamten hier im Yard, der uns als einfachen und unscheinbaren Vorzimmerdamen immer mit Höflichkeit, Freundlichkeit und Achtung gegenübergetreten ist. Nie kam ein abwertendes oder gar böses Wort über ihre Lippen. Im Gegenteil: Wo sie nur konnten, haben Sie uns geholfen und uns Arbeiten abgenommen. Jede von uns kam wohl mehr als einmal in den Genuß, von Ihnen in der Cafeteria vorgelassen zu werden, wenn wir - oder besser gesagt unsere Chefs - es mal wieder extrem eilig hatten und uns daher nur wenige Minuten für einen Kaffee zwischendurch blieb. Und hin und wieder haben Sie uns dann sogar einen Kaffee spendiert und mit uns geplaudert, wobei man stets spürte, daß sie sich wirklich für unsere kleinen Sorgen und Probleme interessierten. Bei Ihnen konnte man sich auch mal all seinen angestauten Frust von der Seele reden, ohne daß man fürchten mußte, Sie würden es anschließend gleich brühwarm unseren Chefs weitererzählen. Langer Rede, kurzer Sinn: An ihrem letzten Tag hier in diesen heiligen Hallen wollten wir uns alle einmal mit einem kleinen Blumengruß bei Ihnen bedanken. Das Yard wird verliert mit Ihrem Fortgang einen großen Teil seiner eh in unserer heutigen Zeit schon so selten anzutreffenden menschlichen Wärme. Und das finden wir alle sehr, sehr schade. Wir für unseren Teil werden Sie jedenfalls alle schrecklich vermissen!"

Svensson war gerührt. Er bedankte sich vielmals, und während er nun bedächtigen Schrittes wie ein Filmstar würdevoll den roten Teppich abschritt und händeschüttelnd auch die anderen acht Blumensträuße in Empfang nahm, kullerte auch ihm so manche verstohlene Abschiedsträne aus seinen Augen. Er versuchte schließlich am Ende des Ganges angelangt, vor der Tür mit der Nummer 2009 seinen Tränenfluß einzudämmen, indem er die Augen schloß, während er gerade seinen letzten Blumengruß aus den Händen der wiedergenesenen Chefsekretärin Claudia entgegennahm, die sich momentan nur noch die Nase schnaubte, weil auch sie inzwischen von jenem feierlichen Augenblick überwältigt worden war. Und während sie sich noch die Tränchen aus den Augenwinkeln rieb, glaubte der Inspektor mit seinen immer noch geschlossenen Augen nun ganz hollywoodlike sogar das Blitzlichtgewitter der Paparazzi um sich herum zu vernehmen. Er öffnete die Augen wieder und entdeckte sofort, woher das mißinterpretierte Geräusch in Wirklichkeit kam. Die vermeindliche Fotokamera war vielmehr eine der Neonröhren der Deckenbeleuchtung, die äußerst geräuschvoll wild vor sich herflackerte. Jeder andere Mitarbeiter hätte in dieser Situation wohl umgehend den Hausmeister aus seinem Kellerbau geklingelt, aber nicht Inspektor Svensson, für den zuallererst immer noch der Grundsatz galt: Selbst ist der Mann! Und so ließ er sich von der erstaunten Claudia einen Stuhl aus dem Vorzimmer geben, erklomm ihn ohne Zögern und drehte den flackernden Störenfried ein paar Mal vorsichtig hin und her, bis er schließlich das aufmüpfige Blinken wieder einstellte, womit auf dem Flur wieder völlige Ruhe einkehrte - bis auf das leichste Schluchzen und vorsichtige Schnäuzen der anwesenden Damen und des einzelnen anwesenden Herren, der sich nach einer letzten tiefen Verbeugung vor seinen weiblichen "Fans" nun mitsamt dem geliehenen Stuhl ins Vozimmer Freakadellys begab. Claudia schloß die Tür hinter ihm und sich, beseitigte noch einmal ihre Tränchen und klopfte dann beherzt gegen die Tür ihres Chefs. Sie öffnete sie und ließ Svensson auf seinem allerletzten amtlichen Gang als Inspektor von Scotland Yard passieren.

Freakadelly erhob sich von seinem Platz, reichte Svensson freundlich die Hand und begann dann mit seiner Abschiedsansprache: "Sehr geehrter Inspektor Svensson, nun ist also der Zeitpunkt gekommen, da sich ihre Wege und die Wege des Yard für immer trennen. Eine lange Wegstrecke waren diese beiden Wege dieselben. Oft war die Straße steinig, besonders dann, wenn es galt, extrem schwierige und sehr grausame Verbrechen zu klären. Und nicht immer waren Sie und ich auf diesem Weg einer Meinung über Richtung, Gangart und Tempo. Aber dennoch schätzte und schätze ich Sie als einen Kriminalisten mit Herz, einen der alten Schule. Und zu so jemandem gehört seine Eigenart und seine damit verbundene Streitbarkeit nunmal dazu. Alles in allem können das Yard und ich uns jedoch geehrt fühlen, jemanden wie Sie all die Jahre in unseren Reihen gehabt zu haben. Und nun gönnen wir Ihnen von ganzem Herzen Ihren wohlverdienten Ruhestand, der noch dazu auch privat einen ganz neuen Lebensabschnitt für Sie eröffnen wird. Was kann man sich noch mehr wünschen als so einen rundum glückverheißenden Lebensabend?! Also, kurzum, ich wünsche Ihnen alles Glück der Welt, auch wenn wir hier größtenteils Ihren Abschied mit einem lachenden und einem weinenden Auge sehen!" Damit erhob sich der Chief Superintendent erneut, trat vor seinem Schreibtisch zur Rechten Svenssons und verbeugte sich ehrfürchtig vor seinem Untergebenen. Svensson reichte ihm die rechte Hand zum Handschlag, während er ihm mit der linken ganz leicht auf die Schulter klopfte: "Danke, Herr Chief Superintendent!" Der inzwischen wieder aufrechtstehende Freakadelly schüttelte den Kopf: "Nennen Sie mich einfach Harold, oder noch besser Harry, so nennen mich meine Freunde. Und nicht einmal mein Schwiegersohn darf mich so nennen!" Damit zwinkerte er Svensson recht eindeutig zweideutig zu. Und der blinzelte zurück und meinte: "Ja, einer jener wenigen Mitarbeiter, die meinen Abgang wohl mit zwei lachenden Augen sehen, nicht wahr?! Aber das ist nicht weiter wild. Es sei ihm gegönnt. Mit seiner ganzen hochnäsigen Art, die ihm niemals wirkliche Freunde verschaffen wird, ist er eh schon bestraft genug". Und der Chief Superintendent setzte sogar noch eins obendrauf mit seiner Bemerkung: "Naja, und mit meiner ziemlich verzogenen Tochter hat er es auch nicht gerade leicht getroffen. Die schlägt irgendwie ganz und gar nach ihrer Mutter". Nch dieser Aussage biß er sich selbst auf die Lippe und schaute sich ruckartig nach dem Bild seiner Gattin auf seinem Schreibtisch um, so als hätte dies alles gehört und könne es nun jederzeit seinem fleischlichen Ebenbild ausplaudern. Doch schon im nächsten Moment mußte er über sich selbst schmunzeln. Welch ein Humbug! Auch wenn die Ohren seiner Angetrauten erfahrungsgemäß alles hörten, vor den ehrwürdigen Mauern des Yard mußten selbst sie halt machen.

Freakadelly bot Svensson daraufhin als Abschiedstrunk noch einen Scotch an, aber der winkte nur ab: "Nein, ich will den ganzen Abschied nicht noch unnötig in die Länge ziehen. Das macht es mir nicht leichter. Außerdem wartet meine angehende Frau schon zuhause auf mich, und ich hab zuvor noch eine Verabredung im Keller und ins Gefängnis muß ich auch noch ..." Freakadelly erstartte mit einem Male mit offenem Mund zur Salzsäule. Aber Svensson grinste nur: "Nein, nicht als Insasse, nur als Besucher! Aber wenn Sie möchten, verehrtester Harry, sind Sie herzlich eingeladen, wenn meine Freunde für mich übermorgen abend eine Art Junggesellenabschiedsparty in meiner Stammkneipe 'My Redemption' schmeißen". Der Chief Superintendent begann, sich wieder aus der kurzzeitigen Erstarrung zu lösen und nickte begeistert: "So entkomm ich meiner gestrengen Nora zuhause mal für ein paar Stunden. Das Angebot nehm ich gern an". Svensson hatte derweil begonnen, in seinen Manteltaschen zu kramen, aus denen er nun Dienstausweis und Waffe herauszog, ebenso wie seine Handschellen - jenes Paar, das er nicht als Fahrradschloß zu mißbrauchen pflegte - sowie seinen ungeliebten Organiser. Freakadelly nahm die Sachen entgegen und verstaute sie sogleich in seiner Schreibtischschublade. Nur den Organiser gab er Svensson zurück. Und als der nur mit den Schultern zuckte, meinte Freakadelly zur Erklärung: "Es ist uns eine liebe Tradition geworden, daß wir diese Dinger unseren Beamten bei ihrem Ausscheiden als Geschenk überlassen, zusammen mit ... " Und damit zog er noch einmal seine Schublade heraus und kramte etwas hervor: "... dieser Goldenen Uhr, in die ihr Name und ihre Dienstzeit eingraviert sind. Meinen Glückwunsch!" Svensson bedankte sich höflich, schüttelte Freakadelly nochmals kräftig die Hand und öffnete den Deckel der Taschenuhr, aus der ihm daraufhin sofort die Melodie "Üb immer Treu und Redlichkeit" entgegenklang. Der Inspektor erschrak: "Oh, schon wieder 15 Uhr. Jetzt müßte ich aber ..." Freakadelly winkte ab und drückte Svensson noch einmal auf seinen Stuhl zurück, worauf er den Fernseher neben dem Schrebtisch einschaltete: "Ich glaube, den Moment für die große Stunde ihres 'liebsten' Kollegen Wannabe haben Sie schon noch, oder?!" Svensson war heute so angenehm feierlich zumute, daß er sogar bereit war, auch noch das über sich ergehen zu lassen. Und außerdem wollte er ja schließlich auch wissen, ob seine gefährliche nächtliche Aktion in Sachen Mordfall Napolitani den gewünschten Erfolg zeigte ...

Es dauerte ein wenig, bis sich bei dem alten TV Gerät Freakadellys Bild und Ton einfanden, aber dann erschien auch schon wie auf ein Stichwort Wannabes grinsendes Honigpferdgesicht auf der Mattscheibe und drohte sie sogleich zu sprengen, während es aus dem Lautsprecher herausgrölte: "Meine Damen und Herren von der Presse! Danke für Ihr zahlreiches Erscheinen! Ich bin Charles Wannabe, meines Zeichens Chefinspektor bei Scotland Yard und mache sie nun mit den neusten Erkenntnissen im Mordfall des als der 'Pate von London' berüchtigten und in den Abendstunden des vergangenen Donnerstag vor seiner Villa mit sechs Pistolenschüssen hingerichteten Salvatore Spirelli bekannt. Doch zuvor habe ich noch eine damit verbundene sensationelle Wendung im Mordfall des vor vier Jahren ebenfalls grausam ermordeten Bankangestellten Steven Napolitani zu verkünden. Bei der Durchsuchung des Rolce Royce des verstorbenen Mister Spirelli entdeckten unsere Kriminaltechniker in den gestrigen Morgenstunden zufällig zwei blutverschmierte handelsübliche Schälmesser, die sich im Verlauf der weiteren Untersuchungen eindeutig als die bis dato verschollenen Tatwaffen im damaligen Mordfall handelt. Damit wird der von mir von Anfang an gehegte Verdacht zur Gewißheit, daß Spirelli und seine Leute hinter der Ermordung von Steven Napolitani stecken. Die Beweisstücke wurden umgehend der Staatsanwaltschaft überstellt, die in den nächsten Tagen postum Anklage gegen Salvatore Spirelli erheben wird wegen Mordes beziehungsweise Anstiftung zum Mord an Steven Napolitani ..." Svensson erhob sich von seinem Stuhl. Er hatte genug gesehen, und den Rest dieser Ein-Mann-Show ließ er jetzt Freakadelly ganz für sich allein genießen. Noch einmal reichte er seinem Ex-Chef die Hand und dann verließ er auf leisen Sohlen dessen Büro.

Im Vorzimmer verabschiedete er sich noch einmal von Claudia und bat sie, sich in seinem Namen auch noch einmal ganz herzlich bei all ihren Kolleginnen für die gelungene Überraschung vorhin zu bedanken. Dann überreichte er ihr die Goldene Uhr als kleine Aufmerksamkeit mit den Worten: "Ich bin ja noch nicht tot und auch nicht senil und weiß noch, wie ich heiße. Behalten Sie sie und mich in guter Erinnerung!" Damit ließ er Claudia sprachlos stehen und trat hinaus in den Flur. Gegenüber dem Fahrstuhl machte er noch einmal kurz halt, klopfte kurz an die Tür und hielt der heraustretenden Sabrina seinen Organiser mit den Worten entgegen: "Wenn einer weiß, wie man das Dings zweckvoll benutzt, dann Sie, liebes Fräulein! Und danke nochmal für die wundervolle Verabschiedung!" Damit überreichte er ihr den Organiser, schüttelte ihr noch einmal die Hand, drehte sich um und drückte den Fahrstuhlknopf. Wenige Sekunden später öffnete sich unter sanftem Glockenklang die Aufzugtür, und Svensson ließ sich ein allerletztes Mal zu den Klängen von "Time To Say Goodbye" liften. Wer hoch steigt, der kann tief fallen - und noch tiefer fahren - in Svenssons Fall sogar bis in den Keller. Hier angekommen begab sich Svensson schnellen Schrittes zu der Tür mit der Aufschrift Archiv, wo auf sein beherztes Klopfen eine schrille Stimme "Herein" rief. Carla O'Brien hatte ihn schon sehnsüchtig erwartet. Sie fiel ihm sogleich um den Hals und meinte dann, während sie ihren Oberkörper noch rasch aus ihrer Anzugjacke befreite: "Ok, Lukas, laß es uns noch einmal tun, ein allerletztes Mal. Komm! Noch einmal, bevor Du für immer gehst!" Auch Svensson entledigte sich noch rasch seines Mantels und nahm dann erwartungsvoll auf einem der bereitstehenden Bürodrehstühle Platz. Dabei sah er Carla fragend in die Augen: "Hast Du denn auch an alles gedacht?" Carla nickte, und während sie mit einer Hand noch den obersten Knopf ihrer rosa Bluse öffnete, wies ihre andere Hand lässig auf den mit Akten überladenen Thresen: "Das ist doch eh alles, was wir dazu brauchen oder?!" Svensson strahlte: "Ja, da hast Du Recht! Ok, laß uns anfangen ..."

Und damit nahm Carla die oberste Akte zur Hand, öffnete ihren Deckel und las dann laut und deutlich vor: "Name: Steven Arturo Napolitani, Spitzname: Stevie, Wohnhaft: London, Al-Meida-Street 88, Geboren: 13.01.1969 in Neapel, Gestorben: 19.08.2005 in London, Nähe Hampstead. Staatsangehörigkeit: Großbrittanien, Familienstand: Verheiratet, Beruf: Leitender Angestellter bei der Londoner Privatbank "Clever & Rich", Größe: 1,88 Meter, Haare: Dunkelbraun, Augenfarbe: Graublau, Ehemann von Cathrin Napolitani". Und Inspektor Svensson ergänzte aus dem Gedächtnis heraus: "Besondere Merkmale: Waschbrettbauch, ein absoluter Perfektionist mit großen Knopfaugen, trug am liebsten Maßanzüge und überschätzte sich und seine Attraktivität für andere damit am Ende maßlos". Dann ließ er sich die Akte reichen und verlas den Rest der Angaben: "Er lernte seine spätere Frau Cathrin Jackson am 30.08.1987 auf einem Collegeabschlußball kennen, wo er sie auf dem Nachhauseweg auch das erste Mal küßte. Verlobung der Beiden war am 08.02.1988 und ihre Hochzeit am 08.08.1988. Er wurde am 19.08.2005 gegen 15.45 Uhr ermordet ... wahrscheinlich durch Salvatore Spirelli und dessen Hintermänner, wie sich gerade eben herausgestellt hat".

Carla nickte: "Ja, ich hab die Pressekonferenz Wannabes auch grad im Radio mitverfolgen können". Svensson schloß die Akte mit den Worten: "Die Beisetzung seiner sterbliche Überreste fand am 24.08.2005 hier in London im Kreise der Familie und Freunde statt. Ich war selbst dabei". Carla hatte inzwischen die Akte wieder an sich genommen und wollte sie gerade beiseite legen, als sie erstaunt innehielt: "Hey, Lukas, hier fehlt ja ein Blatt. Die Seite 24, laut Inhaltsverzeichnis die Aussage eines gewissen Zugbegleiters". Svensson fühlte sich ertappt, schloß seine Augen und tat rasch so, als würde er nachdenken: "Das hab ich, glaub ich, noch im Kopf. Der Zugbegleiter sagte damals dem Sinn nach nur: 'Ich sah nichts Auffälliges. Gar nichts ...'. Das war es, wenn ich mich recht entsinne". Carla schüttelte ungläubig den Kopf: "Das ist in all den Jahren, die wir dieses kleine Ritual hier nach Beendigung eines Falles nun schon pflegen, noch nie vorgekommen, daß bei Deiner peniblen Genauigkeit, was Deine Akten und Notizen betrifft, einmal ein Zettel - geschweige denn gleich ein ganzes Aktenblatt - weggekommen ist". Svensson öffnete seine Augen wieder und meinte schulterzuckend: "Man wird eben alt. Darum trete ich ja jetzt auch ab, bevor mir am Ende gar noch eine Leiche abhanden kommt!" Carla lächelte und schlug ihm die inzwischen geschlossene Akte sanft auf den Kopf: "Du unverbesserlicher alter Spinner!"

Danach legte sie die Akte "Steven Napolitani" gesondert von all den anderen auf eines jener kleinen Wägelchen hinter ihrem Thresen, von dem aus sie dann von einem Praktikanten nach oben in die verschiedenen Büros transportiert wurden. Carla seufzte laut: "Ach, es ist eine Schande! Jetzt geht die Akte wieder hoch zu diesem aufgeblasenen Wannabe, damit er sie dann erfolgreich abschließen kann. Und sicher wird er dadurch auch wieder einen gehörigen Sprung auf der Karrieretreppe machen. Man munkelt ja schon lange, daß er als Chef für diese neu zu bildende Antiterroreinheit des Yard CI7 im Gespräch ist. Und nun, da er diesen medienwirksamen Fall gelöst hat, wird er es wohl auch werden. Nur die Guten, die gehn aufgrund ihrer Anständigkeit und Bescheidenheit immer leer aus". Dabei schaute sie ein wenig traurig auf Svensson.

Dann zückte sie die nächste Akte vom Stapel und begann aus ihrem Inneren vorzulesen: "Name: Francesca Scampi, Wohnort: London, Caruso Road 66, Geboren: 04.07.1989 in London, Gestorben: 12.08.2009 in London, Staatsangehörigkeit: Großbrittanien, Familienstand: Ledig, Beruf: Schulabgängerin, Größe: 1,52 Meter, Haare: Lang und Blond, Augenfarbe: Blau, Tochter von Alberto Scampi". Und wieder ergänzte Svensson, indem er sich die Akte herüberreichen ließ: "Sie war seit dem Abend des 12.08.2005 frisch verliebt in einen zwei Jahre älteren Mitschüler namens Marco Giotti. Am 20.08.2005 wurde sie als Minderjährige brutalstens vergewaltigt von Salvatore Spirelli in dessen Villa. Dieser machte sie 7 Tage später auf einer Privatfeier in seiner Villa auch heroinabhängig und zwang sie danach immer und immer wieder zur Prostitution. Am 26.07.2007 nahm ich sie im Rahmen einer erfolglosen Drogenrazzia im Hause Spirelli fest und vernahm sie. Am 12.08.2009 stellte man bei ihr im Rahmen einer Routineuntersuchung den HIV-Virus fest, worauf sie sich in der scheinbaren Aussichtslosigkeit ihrer Lage noch am Abend desselben Tages gegen 20 Uhr durch einen Sprung von der Tower Bridge in die Themse das Leben nahm!" Er schloß die Akte und ergänzte: "Und am 15.08.2009 fand in Anwesenheit nur zweier Personen - der jenes Marco Giotti und meiner Wenigkeit - ihre Beisetzung statt. Traurig, oder?! Vor allem, daß ihr Vater Alberto Scampi nicht teilnehmen durfte ..."

Und Carla kannte auch den Grund dafür: "Ja, weil jener Alberto Scampi nur einen Tag nach dem Freitod seiner einzigen Tochter, gegen 22.15 Uhr jenen Salvatore Spirelli erschoß, der das unschuldige Leben von Francesca zerstört und damit auch ihren Tod zu verantworten hat. Wenn auch vielleicht nicht vor dem Gesetz, dann doch vor seinem Gewissen, falls jemand wie Spirelli sich überhaupt jemals in seinem Leben den Luxus geleistet hat, ein solches zu besitzen". Svensson übergab Carla die Akte wieder. Und auch hier fiuel ihr beim nochmaligen Durchblättern ein Widerspruch auf: "Hier steht unter Anlagen auch ein Tagebuch der Verstorbenen. Das liegt der Akte aber nicht bei, Lukas?!" Svensson nickte, während er sich gleichzeitig von seinem Platz erhob und nach seinem Mantel griff: "Das stimmt, ich hab das Tagebuch hier am Mann. Und jetzt ist es höchste Zeit, daß ich es dem Menschen übergebe, der am meisten Recht hat, zu erfahren, was Francesca darin aufgeschrieben hat". Mit diesem Worten nahm er Carla noch einmal in die Arme und hauchte ihr ins Ohr: "Dein kleines schrilles Stimmchen wird mir fehlen, aber ich verspreche, daß ich mich mal ab und zu auf einen Kaffee bei Dir sehen lasse". Carla lächelte: "Das will ich auch schwer hoffen, Deine lieben Kollegen lassen sich nämlich nie und nimmer hier unten blicken. Die haben viel zu viel Schiß, daß sie bei mir ihre ach so teuren Gucchis und Armanis dreckig machen". Svensson grinste sie noch einmal verständnisvoll an, dann war er auch schon auf dem Weg nach draußen.

Übers Treppenhaus lief er gemächlichen Schrittes die Stufen hinauf zur Rezeption im Foyer, wo er sich per Handschlag von seinem Freund George verabschiedete mit den Worten: "Na dann bis übermorgen!". Und Yusuf hinter seinem Schlagbaum rief er im Vorbeiradeln zu: "Ey, Yusuf ... übermorgen abend Lokal-Termin. Wenn Du nicht kommst, bist Du nicht mehr mein Buddy, guckst Du!" Und Yusuf strahlte übers ganze Gesicht und rief ihm nach: "Voll krasse Sache, Alder! Da bin ich konkret mit dabei!"

Anderthalb Stunden später stand zum zweiten Mal an diesem Nachmittag vor einem langen, vom künstlichen Neonlicht erleuchteten Flur mit zahlreichen Türen rechts und links des schmalen Ganges. Doch hier gab es keinen roten Teppich, nur kalten grauen Steinboden, und die Türen waren vergittert. Die Tür, die sich am Beginn jenes Ganges eben gerade vor Svensson öffnete, bestand ebenfalls aus lauter dicken, miteinander fest verschweißten Gitterstäben. Und es war auch kein zartes Glöckchen, das akustisch vom Öffnen der Tür kündete, sondern ein schriller, lauter Sirenenton. Fahrstühle gab es hier erst gar keine, wozu auch. Hier konnte man nicht großartig nach oben aufsteigen. Und wer hinter diesen Gittertüren sein vorübergehendes Domizil bezogen hatte, der brauchte auch nicht mehr nach unten - der war nämlich meistens schon längst ganz unten angekommen. Noch eine weitere Gittertür trennte Svensson nun von jenem Zellengang, in dem die Untersuchungshäftlinge untergebracht waren. Hier, im Niemandsland der beiden Gittertüren - von denen eine wieder nach draußen in die Freiheit führte, die andere aber nach drinnen in die zeitlich festgelegte Einsamkeit einer kleinen Gefängniszelle - eingeschlossen, gab es zur Rechten und zur Linken zusätzlich je einen kleinen Raum: In dem einen saßen Teile der Wachmannschaften, der andere war für Häftlinge und ihre Besucher gedacht.

Freundlich stellte sich Svensson dem Wachmann am Schalter des Wachraumes vor und schilderte ihm sein Anliegen. Der Beamte ließ sich seinen Ausweis aushändigen, wobei es für Lukas Svensson völlig ungewohnt war, sich mit seinem Personalausweis zu identifizieren statt mit seinem Dienstausweis. Dann schaute der Uniformierte den Gast eindringlich an und schüttelte mehrfach deutlich seinen Kopf hin und her: "Mister Svensson, dem Untersuchungsgefangenen Alberto Scampi - Häftlingsnummer: 240172 - ist es nicht gestattet, Besuch zu empfangen. Das ist eine Anweisung von ganz oben! Tut mir leid! Und nun muß ich Sie bitten, diesen Sicherheitsbereich umgehend wieder zu verlassen, Sir!" Svensson schaute kurz auf die Schulterstücke und das Namensschild an der Uniform seines Gesprächspartners, dann erwiderte er: "Hören Sie, Sergeant Higgins, so einfach gehe ich hier sicher nicht weg! Sie haben doch da ein Telefon vor sich! Verbinden Sie mich bitte mit Direktor Simmons!" Der Sergeant war ein wenig verblüfft, daß dieser Zivilist den Namen des Gefängnisdirektors kannte, aber er tat dennoch sofort, was Svensson wünschte und stellte die Verbindung her. Es dauerte nur eine Minute, und schon hatte Lukas Svensson eine Ausnahmegenehmigung für den Besuch Alberto Scampis. Schließlich kannte Direktor Simmons den ehemaligen Inspektor nur allzu gut. Er war schließlich stets einer jener eifrigen Verbrecherjäger gewesen, die dafür sorgten, daß sein gastliches Haus in den meisten Fällen randvoll mit meist unfreiwilligen Gästen ausgebucht war. Sergeant Higgins begleitete Lukas Svensson in den Besucherraum, wohin er anschließend auch den Untersuchungshäftling mit der Nummer 240172 auf direktem Weg aus seiner Zelle brachte.

Svensson schaute sich kurz um. Der Besucherraum war eine kleine ehemalige Zelle, in deren Mitte man einfach einen Tisch und zwei Campingstühle gestellt hatte. Lukas nahm kurz Platz, erhob sich bei Scampis Eintreten aber sofort wieder und reichte ihm zur Begrüßung die Hand. Dann setzten sich beide, und Lukas Svensson eröffnete die Unterhaltung: "Wie geht es Ihnen, Mister Scampi?" Scampi fuhr sich einmal flüchtig durch die kurzgeschorenen Haare, dann erwiderte er: "Wie soll es mir schon gehen, Herr Inspektor?! Ich hab meine Tochter verloren, nicht erst am Tage ihres Todes. Nein, schon Jahre zuvor. Ich hab meinen Job als Vater nicht gemacht, ich hab sie nicht beschützt, als dieses Schwein sie brutal und menschenverachtend mißbraucht hat. Dieses Tier hat sie von seinen verdammten Drogen abhängig gemacht und sie von jedem x-beliebigen alten Mistkerl schänden lassen, der ihm dafür einen Hunderter bezahlt hat. Und einer von diesen reichen, perversen Drecksäcken hat sie dann auch noch mit diesem ekelhaften Virus infiziert, der ihr den sicheren Tod gebracht hätte. Einen schrecklichen, qualvollen Tod - einen, der genauso schlimm war wie ihr ganzes Leben in den letzten vier Jahren. Und ich bin Schuld, ich ganz allein! Ich hab sie diesem Schwein mitten in die Arme getrieben, nur wegen der verdammten Schulden! Dieses elende Geld hat meiner Frau auch nicht das Leben retten können. Und meine kleine, unschuldige Tochter hab ich deswegen auch verloren. Wie sollte sie mir das auch jemals verzeihen, daß ich damals nur wegen einer Waffe an der Stirn einfach so da saß, während sie im Nebenraum, quasi vor meinen Augen ..." Scampi begann zu schluchzen und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Svensson erhob sich ein wenig von seinem Stuhl und streichelte seinem sichtlich gebrochenen Gegenüber sanft mitfühlend übers Haar. Dann sagte er: "Ich habe hier etwas ... Sie wissen schon, Francescas Tagebuch, das sollten Sie unbedingt lesen, bevor Sie an ihrem eigenen Schuldbewußtsein hier noch völlig zugrunde gehen". Er schaute dabei fragend zu Sergeant Higgins hinüber, der die ganze Zeit mucksmäuschenstill als Aufsichtsperson im Türrahmen des Besucherraums gestanden hatte. Erst als dieser freundlich nickte, zog er das besagte Tagebuch aus seiner Manteltasche und legte es vor Scampi auf den Tisch. Alberto Scampi wischte die Tränen beiseite und nahm das Buch an sich. Dann dankte er seinem Besucher für dessen mutmachende Worte. Und Svensson ergänzte, während er sich mit festem, innig verbundenen Händedruck von Scampi verabschiedete: "Lesen Sie es! Und lesen Sie es ganz! Besonders die letzten Seiten! Dann werden Sie erkennen, daß ihre Tochter Ihnen am Ende längst vergeben hatte! Und das sollten Sie auch tun: Sich selbst vergeben! Und beim Richter werde ich ein gutes Wort für Sie einlegen, damit Sie für Ihre in meinen Augen durchaus nachvollziehbare Tat mildernde Umstände und eine möglichst niedrige Haftstrafe erhalten. Und dann nutzen Sie Ihre Zeit hier, um mit der Welt und sich selbst wieder ins Reine zu kommen, damit Sie - wenn Sie wieder frei sind - ihr Leben noch einmal ganz neu beginnen können. Dem Andenken Ihrer bezaubernden Tochter und vor allem sich selbst zuliebe!"

Lukas Svensson und Alberto Scampi verließen gleichzeitig den Besucherraum. Und während Svensson vor dem Gefängnistor wieder ins Freie trat, schloß sich hinter Scampi die Zellentür. Alberto Scampi nahm auf seiner Schlafliege Platz und schlug sogleich erwartungsvoll den Deckel von Francescas Tagebuchs auf, wobei ein lose eingelegtes Foto auf den Zellenbogen segelte. Scampi hob es auf und drehte es um. In diesem Moment schossen ihm die Tränen wieder in die Augen. Das Bild zeigte das Grab seiner kleinen Francesca, über und über reich geschmückt mit Blumen und zwei Kränzen. Svensson hatte es vor knapp einer einer Stunde selbst fotografiert, nachdem er neben den beiden Kränzen von sich und Francescas Freund Marco auch noch zusätzlich all die Blumensträuße plaziert hatte, die er erst kurz zuvor noch selbst von den Sekretärinnen des Yard erhielt.

EPISODE 20: DOPPELTER FEIER-ABEND

Ein weiterer Tag neigte sich seinem Ende zu. Die Londoner Innenstadt hatte bereits damit begonnen, sich ihr dunkles Abendkleid überzustreifen, dessen glitzernde Applikationen all die bunten Lichter und Leuchtreklamen bildeten, die die Themsemetropole auch nach Anbruch der Dunkelheit bis tief hinein in die Nacht weithin sichtbar hell erstrahlen ließen. Drei Querstraßen von Scotland Yard entfernt - gegenüber einem alten Lichtspielhaus, in dem an diesem Abend gerade mal wieder der Klassiker "James Bond 007 - Liebesgrüße aus Moskau" gezeigt wurde - schrieb über der Eingangstür einer kleinen Eckkneipe eine dieser bunten Leuchttafeln in roten Neonbuchstaben ihr "MY REDEMPION" an die sonst so kahle Betonwand, deren Putz an zahlreichen Stellen bereits abgebröckelt war. Auf einer der drei Stufen, die von der Straße aus zu jener Lokalität hinaufführten, stand ein junger Mann in einem chicken dunklen Anzug mit rotem Seidenhemd und weißer Krawatte. Er hatte ehrwürdig die Hände vor dem Bauch verschränkt und trug im Gesicht trotz der fortgeschrittenen Tageszeit eine verspiegelte, schwarze Sonnenbrille, wobei er zusätzlich sein Haupt gesenkt hielt, als wolle er damit sicherstellen, daß niemand der zahlreichen vorübergehenden Passanten jenen kleinen roten Teppichfetzen stahl, der hier vom Lokaleingang über die abgewetzten Treppenstufen und den Bürgersteig hinweg bis zur Bordsteinkante ausgelag.

Erst als langsam und gefühlvoll ein schwarzer Rolce Royce heranbrauste und direkt am Ende des Teppichs anhielt, hob der Mann in Schwarz vorsichtig grinsend seinen Kopf. In diesem Moment öffnete sich auch schon die Fahrertür des Luxuswagens und ein ebenfalls komplett in Schwarz gekleideter Herr mit einer Chauffeursmütze auf dem Kopf sprang heraus. Er blinzelte dem Sonnenbebrillten kurz zu, lief dann eilends zur gegenüberliegenden Seite des Autos und öffnete dort die hintere Tür, wobei er einen tiefen Knicks machte und mit feierlicher Stimme verkündete: "Sir, darf ich bitten!" Nun, so höflich bitten ließ sich der Insasse des Luxusschlittens nicht zweimal, und so kam aus dem dunklen Wageninneren kurze Zeit später niemand anders hervor als Inspektor a.D. Lukas Svensson höchstpersönlich. Auch er verbeugte sich nun einmal tief vor seinem Fahrer und sagte dann schmunzelnd zu ihm: "Danke, George, es war alles zu meiner vollsten Zufriedenheit. Der Luxuswagen steht morgen früh wieder da, wo er hingehört - in der Kriminaltechnik, geschrubbt und gewienert und bereit zur Rückgabe an die Witwe Spirellis. Verstanden?! Und im Gegenzug dafür gebe Ihnen den Rest des Abends frei, Sie dürfen mit mir meine Pensionierung und meine bevorstehende Hochzeit feiern!" George konnte sich nun sein Lachen nicht mehr verkneifen. Er schloß Svensson kurzerhand in die Arme und meinte dann: "Mach ich sehr gern, Lukas, mein Freund!" Und schon schritten beide nebeneinander auf den Eingang des Lokals zu. Svensson registrierte dabei sofort den roten Teppich unter seinen Füßen, und schaute George fragend an, so daß dieser sich umgehend zu einer kurzen Erklärung genötigt sah: "Nun, das ist eine Leihgabe von unserem Hausmeister. Er hatte eben noch ein Stück übrig, das damals beim Verlegen in den Fluren der Chefetagen des Yard nicht benötigt wurde. Und da meinte er, wenn Du ihm schon die Reperaturarbeiten an den Leuchtstoffröhren abnehmen würdest, dann könne er sich so wenigsten ein bißchen revanchieren! So, und nun aber nix wie rein ins Vergnügen!"

In diesem Moment wurden die zwei in ihrem Versuch, über die Treppe das Lokal zu betreten, vor dem Eingang von der ausgefahrenen Rechten jenes mysteriösen Mannes mit der Sonnenbrille jäh gestoppt. Der grinsende Typ, der Svensson sofort irgendwie bekannt vorkam, knurrte mit tiefer Baßstimme: "Ey, Ihr kummt hier net rein! Erst will ich Parole von Euch!" Spätestens jetzt hatte der Mann hinter der Spiegelbrille trotz seiner Verkleidung seine wahre Identität preisgegeben, und Lukas entgegnete lachend: "Mach sofort den scheiße Weg frei, Yusuf! Läßt Du uns rein oder kriegst Du krass Ärger, ich schwör!" Yusuf nahm die Sonnenbrille ab und lockerte gleichzeitig den engen Knoten seiner Krawatte, während er übers ganze Gesicht strahlend ausrief: "Ok, Alder, laß ich mal gelten! Aber sag mal, wie soll ich eigentlich jetzt zu Dir sagen: Sir Svensson oder Sir Lukas oder Ex-Inspektor ..." Plötzlich schlug er sich mit der flachen Hand an die Stirn und beantwortete dann seine eben gestellte Frage einfach gleich selber: "Alder, ich habs. Ich nenn Dich ab jetzt voll konkret ... Expektor ... Verstehst Du: Ex und Inspektor macht zusammen Expektor! Krasse Sache, ey!" Und während Yusuf sich und seinen Vorschlag draußen vor der Tür noch ein wenig selbst feierte, begaben sich George und Lukas schon mal ins Innere der Kneipe.

In dem kleinen Lokal war es schon ziemlich voll. Lukas staunte nicht schlecht. Tatsächlich entdeckte er rundum nur vertraute Gesichter. Schon beachtlich, mit wie vielen Leuten er über die Jahre seiner Dienstzeit in Kontakt gekommen war und wie viele davon er an diesem Abend als gute Bekannte, wenn nicht gar als Freunde, hier begrüßen durfte. An einem Tisch entdeckte er, in angeregter Unterhaltung vertieft, Dick Smith und Frank Gumble von der Londoner Transportpolizei, die seinerzeit an den Tatortermittlungen im Mordfall Napolitani beteiligt gewesen waren. Er ging kurz zu ihnen herüber, begrüßte sie herzlich und wünschte ihnen einen vergnüglichen Abend. Einen Augenblick war George zur Stelle und nahm Svensson den Mantel ab, um ihn dann zum Garderobenständer zu bringen. Und Lukas ging währenddessen schon einmal zur Bar vor, wo er auf einem Hocker Platz nahm, um sich zur Feier des Tages ein Bier zu bestellen. Aber George, der sich in diesem Augenblick wieder zu ihm gesellte, winkte nur ab: "Bier gibts später, jetzt erstmal zur Doppelfeier des Tages Champagner für alle zum Anstoßen".

Aus einer dunklen Ecke der Kneipe tönte es daraufhin: "Ja, und der geht auf mich!" Der Mann, der dies ausgerufen hatte und der nun langsam aus dem Halbdunkel ans Licht kam, war kein anderer als Chief Superintendent Harold Freakadelly höchstpersönlich. Er trat auf Svensson zu, schüttelte ihm kräftig beide Hände und sagte dann: "Herzlich Willkommen! Ihnen, lieber Lukas, sowie uns allen, einen schönen Abend!" Tosender Beifall setzte ein und hielt nahezu eine Minute an. Svensson bedankte sich bei Freakadelly, und dann verteilte einer der Ober die Gläser mit dem spritzigen Inhalt. Die versammelte Gemeinschaft prostete Lukas Svensson zu und stimmte gleichzeitig das Lied "For He's A Jolly Good Fellow" an. Svensson war sichtlich gerührt. Und so leerte er all seinen sonstigen festen Prinzipien zum Trotz sein Glas in nur einem einzigen Schluck. Anschließend nahm er sich die Zeit, sich einmal genauer in dem schummrigen Lokal umzuschauen. Da waren die anstelle der üblichen Luftschlangen und Luftballons überall an der Decke und den Wänden gelbe Absperrbänder mit der Aufschrift "Police Line Do Not Cross" sowie Spurensicherungsaufsteller mit den Ziffern von 1 bis 9 verteilt. Über dem Eingang hing zudem ein Schild, auf dem in goldener Schrift stand: "Einen glücklichen (Un-)Ruhestand und allzeit ruhigen Wellengang im Hafen der Ehe, lieber Lukas!" Und während er noch so las, klopfte Svensson jemand vorsichtig auf die Schulter: "Der Spruch ist von mir, Sir! Und danke für die Einladung, wo wir uns doch noch gar nicht so lange kennen!" Der da neben ihm stand, war kein anderer als Phillip Young, der junge Sergeant der Wasserschutzpolizei, den er beim Auffinden der Leiche Francesca Scampis kennengelernt hatte. Svensson hatte ihn am Montagvormittag ganz spontan telefonisch über den Anschluß seiner Dienststelle eingeladen. Svensson schüttelte dem Beamten erfreut die Hand: "Schön, daß Sie es einrichten konnten, Phillip! Vielen Dank für das, was Sie da geschrieben haben! Wissen Sie, irgendwie hab ich mich bei unserer Begegnung sofort mit Ihnen verbunden gefühlt. Darum war es nur recht und billig, daß Sie heute hier mit dabei sind. Und nun feiern Sie schön!" Phillip bedankte sich und ging dann wieder zurück an seinen Tisch.

Svensson schaute sich weiter um, als er mit einem Male - auf dem Barhocker zu seiner Linken sitzend - einen jungen Mann bemerkte, der seinen Kopf auf dem Thresen abgelegt hatte und dabei ganz leise schnarchende Laute von sich gab. Svensson stubste ihn vorsichtig an, worauf der Mann sein Haupt einen Moment später erhob und dem Inspektor a.D. mit traurig-verklärtem Blick entgegenschaute. Als er dann - zum Reden ansetzend - den Mund öffnete, gab es für Lukas keinen Zweifel mehr, daß dieser Gast an diesem Abend bereits sehr tief ins Glas geschaut haben mußte - Pardon, korrigiere! Nicht in ein einzelnes Glas, es mußten bei der Standarte und dem Silberblick wohl schon ein Dutzend hochprozentig gefüllte Gläschen gewesen sein! Svensson musterte den Trunkenbold kurz mit ernstem Blick, dann fragte er kopfschüttelnd: "Was treibt gerade einen wie Sie denn dazu, sich so früh am Abend schon dermaßen zu besaufen, Crawler!" Svenssons Ex-Kollege grinste nur blöd, während sein Kopf hin und her wackelte und seine Hand beim Versuch, in die Brusttasche seines Oberhemdes zu gelangen, immer wieder danebengriff. Endlich hatte er sein schwieriges Unterfangen doch noch erfolgreich abgeschlossen und beförderte ein arg zerknülltes Blatt Papier hervor, das er Svensson hin und her wedelnd vors Gesicht hielt: "Das hier! Das ist der Grund! Ne, Blödsinn! Nicht der Wisch da! Sondern was da drin steht, und das, was nicht da drin steht!" Lukas war neugierig geworden. Er entzog Crawler das kurzerhand Papier und strich es auf dem Thresen glatt. Ein kurzer Blick genügte, und Svensson nickte: "Den Zeitungsartikel kenn ich schon. Hab ihn heute morgen beim Frühstück gelesen. Ja, und?! Ist doch schön für Ihr Herrchen, daß er jetzt Chef der neu gegründeten Antiterroreinheit CI7 ist, oder?! Da fällt doch für das kleine Schoßhündchen bestimmt auch ein dicker Knochen ab?!" Crawlers Mundwinkel folgten der Schwerkraft, seine Augen füllten sich mit kleinen wäßrigen Tropfen, während er den Kopf hin und her warf und wütend loslallte: "Eben nicht! All die Jahre hab ich alles für Wannabe getan, wirklich alles! Und noch viel mehr! Und jetzt, kaum daß er in diese Terrordingsda aufsteigt, da werd ich auch schon mit einem simplen Fingerschnippsen weggestoßen und einfach so zurückgelassen von diesem stinkenden Emporkömmling ..." Weiter kam Crawler nicht, denn plötzlich rollte er die Augen und würgte zweimal kurz, bevor er voller Panik aufsprang und stark schwankend in Richtung Toilette entschwand. Ganz offensichtlich gab es nach dem übermäßigen Alkoholkonsum jetzt in seinem Körper auch so einiges an geruchsintensiv aufsteigenden Emporkömmlingen, die darauf aus waren, im Schoße einer öffentlichen Kloschüssel von Inspektor Crawler einfach so zurückgelassen zu werden. Naja, Schwamm drüber! Das Leben ist halt manchmal ganz schön bitter!

Statt noch länger über Crawlers übles Schicksal zu senieren, widmete sich Svensson nun allerdings lieber wieder seinen anderen Gästen. Neben dem Eingang entdeckte er dabei seinen Schützling Tim Hackerman, dem er nach einer zweijährigen Jugendstrafe wegen Computerkriminalität vor fast viereinhalb Jahren den Job in der Personalabteilung des Yard besorgt hatte, und dem er in entscheidendem Maße sein Liebesglück verdankte. Ohne Tims Hilfe wäre er schließlich gar nicht erst an die damalige Adresse seiner zukünftigen Frau gekommen. Und so schlossen sich die beiden Männer auch sogleich zur Begrüßung wie zwei alte Freunde innig in die Arme, wobei Tim Svensson schmunzelnd ins Ohr flüsterte: "Na, sind Sie Ihr Schmuckstück damals bei der gesuchten Dame denn eigentlich losgeworden?!" Lukas Svensson löste sich aus der Umarmung und blinzelte dabei zurück: "Nein, im Gegenteil! Ich hab an diesem Abend sogar noch ein ganz besonderes Schmuckstück gefunden unter der Adresse, die Du mir gegeben hast!" Dann gönnten sich die Beiden an der Bar ein Bier und plauderten ein wenig über dies und das, bis Timmy schließlich plötzlich seinen mitgebrachten Laptop aufklappte und ihn einschaltete. Svensson schaute ein wenig verdutzt, als sich auf dem Bildschirm nacheinander verschiedene bunte Kästchen öffneten und auf einem mit dem Titel "Videokonferenz" ein ihm nur allzu gut bekanntes Gesicht erschien: "Guten Abend, Lukas! Du siehst, modernste Technik machts möglich! Und meine brilliante Systemanalystin natürlich auch! Auf jeden Fall kann ich so heute Abend über den Großen Teich hinweg doch noch bei Dir sein, wenn Du unter Mißachtung aller Dienstvorschriften und fernab Deiner Dich liebenden Fast-Ehefrau Deinen letzten Tag in Freiheit begehst! Ich habs da nicht so gut, mein Tag hat mal wieder 24 Stunden, und keine Minute davon wirds langweilig. Der Internationale Terrorismus kennt nunmal keinen Feierabend! Ich freu mich jedenfalls, Dich mal wiedergesehen zu haben! Und ich hoffe, die Überraschung ist uns gelungen - Deinem Freund Tim, Deiner bezaubernden Yelena und mir, Deinem alten Freund Jack aus L.A. So, und nun feiert noch ordentlich und macht nicht so spät Schluß! Morgen wird schließlich geheiratet! Daß Ihr mir morgen nachmittag ja ordentlich viele Fotos schießt, wo ich schon nicht live dabei sein kann! Und vergiß ja nicht, Deinen Armreif zu tragen! Du weißt, ich hab hier hervorragende Spezialisten um mich, die mir jedes später noch so kleine Detail Deiner Fotos sichtbar machen können. Also dann, alles Gute, mein Freund!" Und während ihm Jack vom Bildschirm aus noch einmal zuwinkte, hielt Lukas mit einer kleinen Träne im Auge sein rechtes Handgelenk mit dem geheimnisvollen Silberarmreif vor die Linse der eingebauten Laptopwebcam. Timmy klappte den Laptop wieder zu, und Lukas drückte ihn noch einmal ganz fest an sich: "Danke, Junge! Damit hast Du mir eine riesige Freude bereitet. Diesem Mann da verdanke ich eine der wichtigsten Erkenntnisse meines Lebens ..." Und bei diesen Worten mußte Lukas Svensson unweigerlich an Cathrin, Jane und den kleinen Luke denken, deren gemeinsame Zukunft nun nicht mehr in Gefahr war - und das fühlte sich in diesem Moment einfach nur verdammt richtig an!

Erschrocken sprang Svensson auf. Verdammt! Cathrin und Jane! Er hatte doch versprochen, sie zu informieren, wenn sein Plan erfolgreich gewesen war! Das hatte er in den letzten beiden Tagen ja völlig verschwitzt. Rasch erkundigte er sich bei dem Barmann nach einem Telefon. Und der verwies ihn auf den Münzfernsprecher in der Nähe der Toiletten. Svensson kramte an der Garderobe sein Notizbuch aus der Manteltasche, suchte Cathrins Telefonnummer heraus und begab sich dann zum Telefonieren in den dunklen Gang hinter dem Tresen.

Das Läuten des Telefons hatte Cathrin und Jane geweckt. Schließlich waren beide schon kurz nach dem Abendessen - nachdem sie den kleinen Luke zu Bett gebracht und ihm gemeinsam seine Gute-Nacht-Geschichte erzählt hatten - bei den Abendnachrichten auf der Couch Arm in Arm eingeschlummert. Nun löste sich Cathrin aus der Umarmung Janes und begab sich schnellen Schrittes zum Telefon. Sie nahm den Hörer ab und fragte: "Ja, wer ist denn da?" Am anderen Ende war es ziemlich laut. Dennoch erkannte Cathrin sofort die beruhigende Stimme Svenssons, die ihr mitteilte: "Es ist alles so gelaufen, wie ich es geplant hatte. Sie und Jane brauchen sich keine Sorgen mehr zu machen. Der ganze Spuk ist endgültig vorbei!" Cathrin fiel bei diesen Worten ein Stein vom Herzen. Am liebsten wäre sie dem Inspektor augenblicklich um den Hals gefallen, aber da das über die Entfernung nicht ging, sagte sie nur: "Danke vielmals! Wie können wir das nur je wieder gut machen bei Ihnen?" Und aus der Hörmuschel an Cathrins Ohr tönte es zurück: "Einfach, indem sie Luke gute Eltern sind, alle Beide. Seien Sie immer für ihn da, ziehen Sie ihn mit Liebe und Geduld auf, damit aus ihm einmal ein guter, anständiger Mensch wird. Solche Menschen braucht es nämlich. Also dann, machen Sie es gut! Wir sehen uns!" Und schluchzend ergänzte Cathrin: "Ja, spätestens am 20.09. zur Taufe von Luke! Gute Nacht, und Gott beschütze Sie!" Damit legte sie den Hörer wieder auf seinen Platz und begab sich zurück zu Jane, die ihren Kopf sogleich in den Schoß der Geliebten legte, während die ihr sanft übers Haar strich und ihr dabei Svenssons liebevolle Worte sinngemäß wiedergab. Und schon eine Viertelstunde später waren beide Frauen wieder sanft entschlummert.

Im "My Redemption" war derweil an Schlaf gar nicht zu denken, denn hier tobte inzwischen die Party. Der DJ spielte immer wieder abwechselnd "Go West" und "Kalinka", und die angeheiterten Gäste legten dazu ein kleines, beschwingtes Tänzchen aufs Parkett. Als Svensson aus dem dunklen Flur zurückkehrte, lief er direkt seinem Freund Yusuf Kebab in die Arme. Der trompetete auch gleich los: "Ey Alder, nich so stüremisch! Guckst Du besser, wo Du hinläufst! Übrigens, was ich noch sagen wollte, neulich Abend, bei Deinem Besuch mit dem Babydoktorspinner im Yard. Du, Dein Taschentuch, das hab ich ..." Svensson sah ihn erschrocken an: "Ja, was hast Du mit dem Taschentuch?" Yusuf versuchte, seine Ausführungen fortzusetzen: "Keine Panik, ey! Das hab ich ..." Weiter kam er nicht. Denn plötzlich betrat eine etwa dreißigjährige elegant ganz in Schwarz gekleidete Frau das Lokal, schritt ohne Zögern auf Svensson zu und hielt ihm sofort die gezückte Dienstmarke vors Gesicht: "Mein Name ist Rita Diamont. Lukas Svensson, ich ermittle im Auftrage der Dienstaufsicht gegen Sie! Leugnen und Abstreiten hilft Ihnen gar nichts, ich weiß alles, was Sie getan haben! Und ich habe jede Menge Beweise gegen Sie! Also packen Sie jetzt und hier auf der Stelle aus? Oder soll ich das hier vor versammelter Mannschaft tun?" Lukas Svensson war zur Salzsäule erstarrt. Inzwischen hatte auch sein Gesicht jeden Farbschimmer verloren. Wie nur? Wie war sie ihm auf die Schliche gekommen? Hatte sie etwa Jack Holmes schon verhaftet? Was würde jetzt aus ihm werden, aus seiner Hochzeit, aus Yelena! Mein Gott, er würde im Gefängnis landen! Alles war aus und vorbei! Vielleicht konnte ein reumütiges Geständnis ja am Ende noch alles retten? Svensson wollte gerade alles zugeben, da unterbrach ihn Rita Diamont jäh: "Ok, dann pack ich eben aus!" Und damit begann sie zu den leise einsetzenden Klängen von "I'm To Sexy For My Shirt", sich langsam vor ihm und seinen Gästen auszuziehen. Svensson atmete auf, und ein gesundes Rosa kehrte dabei zurück in sein erblaßtes Gesicht. Diese Rita war nur die obligatorische Stripperin, die seine Freunde für ihn engagiert hatten. Und der ganze unheilvolle Auftritt gehörte zu ihrer Nummer. Im nächsten Moment landete auch schon der rote Spitzen-BH jener Künstlerin in seinen Händen, gerade noch rechtzeitig, damit er sich mit ihm den nun in Strömen rinnenden Angstschweiß von der Stirn wischen konnte. Yusuf klopfte Lukas auf die Schulter: "Geile Nummer, ey! Hab ich organisiert, aber kein Sterbenswort zu Aisha, okay! ... Ach übrigens: Dein Taschentuch hab ich hier. Vielleicht solltest Du lieber das zum Schweißwischen benützen und der jungen Frau ihr Utensil wieder zurückgeben. Die friert sonst nachher, weiß Du!" Svensson gab der Tänzerin ihren BH zurück und bedankte sich dann ganz artig für ihren Auftritt. Das Taschentuch aber verstaute er umgehend ganz tief und fest in seiner Hosentasche. Und dann verschwand er heimlich, still und leise für eine kleine Ewigkeit an der Bar, wo er auf den gerade erlittenen Schock erstmal drei Gläschen Wodka auf Ex kippte.

Wenig später raunte eine Stimme in Svenssons Rücken: "Hey, Chef! Nette Feier! Und einen schönen Gruß von meinem Boß. Der läßt sich heute hier von mir entschuldigen, hat ja auch viel zu tun in seiner Werkstatt!" Es war Luigi Rigatoni, jener Lehrling von Svenssons Freund Jack Holmes, der heute zu seinem Bedauern nicht dabei sein konnte, weil er fürchten mußte, Yusuf könne ihn sonst nach ihrer gemeinsamen Nacht- und Nebelaktion wiedererkennen. Luigi reichte Lukas freundlich die Hand und meinte: "Mein Chef hat gesagt, wannimmer Sie seine Hilfe brauchen, er steht Ihnen jederzeit zur Verfügung, und Sie sollen sich nicht scheuen, Ihn anzurufen. Er steht für immer tief in Ihrer Schuld! Wissen Sie, was er da meint?!" Svensson nahm den Lehrling für einen Moment zur Seite und erzählte ihm dann recht redseilig fast die ganze Geschichte von seiner ersten schmerzvollen Begegnung mit Jack Holmes an jenem verhängnisvollen 17.Februar 1986 in einer ganz ähnlichen Kneipe zu fast derselben Stunde. Nur die Sache mit dem verschwundenen Geld vergaß er dabei auch diesmal wieder zu erwähnen. Und als er fertig war, verabschiedete er Luigi mit einem schönen Gruß an Jack Holmes.

Irgendwann kurz vor 23 Uhr trat noch einmal Chief Superintendent Freakadelly an den nun leicht angeheiterten Lukas heran und legte vertrauensvoll seinen Arm um den ehemaligen Untergebenen: "Wissen Sie, Lukas, das ist eine schöne Feier! Und sie hat mir vor allem einen weiteren jammervollen Abend im Kreise meiner Lieben erspart. Zu allem Unglück hat sich nämlich heute vormittag auch noch telefonisch meine geliebte, aber auch reichlich anstrengende Tochter Janet angekündigt, weil ihr Göttergatte mal wieder lieber einen Abend auf seiner - ihm von mir zur Hochzeit geschenkten - Segelyacht verbringt als mit ihr!" Svensson unterbrach ihn lächelnd: "Naja, das tun sie doch auch! Also, den Abend lieber woanders zu verbringen, als bei ihrer Janet!" Freakadelly mußte schmunzeln über soviel einleuchtende Logik: "Ja, da haben Sie recht! Na, wie dem auch sei: Jedenfalls hat er das Schiff auch noch 'Simone' getauft, nach seiner über alles geliebten Mutter, die verstarb, als er noch ganz klein war, worauf er allein von seinem herrschsüchtigen Vater aufgezogen wurde, der ihm fortan jede Freude am Leben nahm und ihn nur noch auf das Streben nach Macht und Erfolg ausrichtete. Was dabei rauskam, durften Sie ja selbst lang genug bewundern!" Svensson nickte nachdenklich, während Freakadelly fortfuhr: "Naja, was ich eigentlich sagen wollte, meine Tochter ist eifersüchtig auf eine Yacht, und Charles läßt sich natürlich auch bei Ihnen durch mich entschuldigen, obwohl ich mal denke, es ist für Sie ein zu verschmerzender Verlust, wenn mein Schwiegersohn nicht hier ist, oder?!" Dabei zwinkerte er Svensson verstohlen zu und verabschiedete sich dann mit den Worten: "Na, nun ist es aber für mich Zeit fürs Bett. Zuhause schlafen sicher schon alle, und da kann dann auch ich getrost zur Ruhe gehen! Gute Nacht und alles Gute, mein Lieber!" Lukas schüttelte seinem Ex-Chef die Hand und erwiderte dann: "Danke fürs Kommen, Mister Freakadelly!" Doch der schüttelte, schon im Gehen begriffen, nur den Kopf: "Sie wissen doch, Lukas, für gute Freude heiße ich Harry ..."

Im diesem Augenblick raste einem Geschoß ähnlich der immer noch sturzbetrunkene Inspektor Crawler aus dem Dunkel des Ganges bei den Toiletten heraus direkt auf Freakadelly zu und posaunte dabei, so laut es ging: "Ja, genau! Wir sind doch alle Brüder hier, oder?! Du bist der Lukas, ich bin der Derrik, und das ist der Harry! So, und nun gehts nach Hause, und der Harry fährt für den Derrik schonmal den Wagen vor!" Svensson stützte - so gut er konnte - rasch den plötzlich in sich zusammensinkenden Crawler. Dann sah er zu dem sichtlich entsetzten Freakadelly herüber und beruhigte ihn mit den Worten: "Keine Sorge, ich kümmer mich schon um diese kleine Schnapsleiche! Mein Freund George kann ihn ja nach Hause fahren, ins Bett zuhause bei seiner Mami!" Der inzwischen hinzugeeilte George grinste, dann schnappte er sich die betrunkene Jammergestalt und schleppte sie nach draußen in den bereitstehenden Royce, der schon wenig später mit quietschenden Reifen davonfuhr.

Auch die anderen Gäste verließen nach und nach bis kurz vor Mitternacht die Feier. George schien beim Nachhausebringen Crawlers wohl noch aufgehalten worden zu sein, und da sich Lukas nach dem Genuß der drei Schnäpse vorhin nun auch nicht mehr ganz sicher auf seinen Füßen fühlte, wartete er brav, daß man ihn nach Hause brachte, wo seine Yelena jetzt sicher schon sehnsüchtig seiner Heimkehr entgegensah. Der DJ schaute auf die Uhr und verkündete schließlich in einer Pause zwischen seinen zwei Lieblingssongs: "So, und nun für den Herrn Inspektor a.D. ein letztes Mal in Vorbereitung auf seine Hochzeit ein Lied aus der Heimat seiner zukünftigen Gattin ... Kalinka!" Wieder dröhnte die vertraute russische Volkswaise in einen modernen Beat gekleidet aus den Lautsprechern, während der junge Mann hinter dem Mischpult langsam seine Sachen zusammenzupacken begann. Da betrat von draußen plötzlich - wie aus dem Nichts heraus kommend - ein etwa 50jähriger, drahtiger Mann mit kurzgeschorenen grauen Haaren und einem stoppligen Dreitagebart das Lokal. Er bewegte sich festen Schrittes schnurstracks auf Svensson zu, hielt ihm die Hand entgegen und sprach mit einem leichten russischklingenden Akzent: "Gestatten, Mister, mein Name ist Iwan Kowarno. Ich lebe erst seit ein paar Monaten in dieser Stadt, und da komm ich hier zufällig vorbei und höre die Musik aus Mütterchen Rußland. Ein Weilchen traute ich mich nicht herein, aber dann kam ein junger Mann in einem schwarzen Anzug mit einem dunkelroten Hemd und Krawatte aus dem Lokal, den sprach ich an. Und der erklärte mir, daß hier ein Inspektor von der Polizei seinen Abschied feiert und gleichzeitig seinen letzten Abend vor der Hochzeit mit einer Landsmännin von mir. Wie war noch ihr liebreizender Name?" Svenssons Augen leuchteten, nun da er den Namen seiner Angebeteten aussprechen durfte: "Yelena, Yelena Zladkaja. Und ich heiße Svensson, Lukas Svensson!" Damit schüttelte er dem Fremden mit der festen, tiefen Stimme freundlich die Hand. Und Kowarno entgegnete: "Zladkaja - schöner, süßer Name. Und ganz sicher verbirgt sich dahinter auch eine ebenso süße Frau. Wissen Sie was?! Wir zwei sollten anstoßen. Auf Sie, Lukas, auf ihre bezaubernde Yelena und auf ihrer beider Zukunft". Und mit diesen Worten begab er sich rasch zur Bar.

Inzwischen klopfte der DJ Svensson leicht nervös auf die Schulter: "Ich hab um Punkt 0 Uhr Feierabend, und das Lokal schließt um dieselbe Zeit. Was Probleme mit Überschreitung der Sperrstunde bedeuten, muß ich Ihnen ja wohl nicht erst großartig erklären, oder?! Also, Sie sollten sich jetzt langsam aber sicher auch auf den Heimweg machen, Sir!" Und damit verschwand er wieder hinter seinem Mischpult, drehte die Musik ab und packte nun auch das Pult zusammen, um es anschließend draußen im Hof in seinem Auto zu verstauen. Iwan Kowarno war unterdess mit zwei randvoll gefüllten Wodkagläsern zurückgekehrt, von denen er das in seiner rechten Hand Svensson darbot und gleichzeitig verkündete: "Ein doppelter Wodka für einen zweifachen Anlaß! Na starowje! Wohlsein! Auf Sie, Lukas, auf ihren Ruhestand, auf Yelena, auf uns und auf die Gesundheit. Und auf Mütterchen Rußland, das ich hoffentlich bald gesund wiedersehen darf!" Lukas war erstaunt: "Ach, Sie bleiben gar nicht hier?" Kowarno schüttelte betreten den Kopf: "Nein, ich hab hier nur eine Kleinigkeit zu klären, dann bin ich wieder weg! ... Aber jetzt bring ich Sie erstmal nach Hause, wenn's recht ist. Mein kleiner Wagen steht nämlich keine zwanzig Meter von hier! Und allein sollten Sie in ihrem Zustand lieber nicht nachts durch die Straßen ziehen. Wie leicht kann Ihnen da etwas zustoßen!" Lukas nickte, während er auch diesen letzten Schnaps des Abends in einem Zug leerte: "Ja, da haben Sie recht, mein Freund. Wer weiß das besser als ich, daß einem hier leicht etwas passieren kann?! Also gut, bringen Sie mich nur heim. Ich kann Sie ja während der Fahrt bezüglich des Weges anleiten - oder briefen, wie mein Freund Jack aus USA immer zu sagen pflegt. Ja, und der Barkeeper kann dann auch endlich seine immer deutlicher werdenden Blicke zur Uhr unterlassen und den Laden hier dicht machen ... Für heute haben wir, glaub ich, alle genug! Und außerdem wird morgen geheiratet! Also, auf zu Yelena!"

Svensson hakte sich bei seinem neuen russischen Freund unter und winkte dem Barmann im Gehen noch einmal kurz zu. Dann verließen die beiden Männer gemütlichen Schrittes das Lokal und stiegen in das bereitstehende Auto, welches die Zwei sogleich ganz geruhsam in Richtung von Svenssons Wohnung und damit hinein in die offenen Arme seiner innig geliebten Yelena kutschierte ...

EPISODE 21: SCHLUSSLICHT

Der Nebel lichtete sich langsam. Die Schleier der Dunkelheit wurden gelüftet. In Lukas Svenssons Kopf setzte die Dämmerung ein, in der das aufflackernde Licht der Erinnerung die Schatten des Vergessens nach und nach vertrieb. Wie in Zeitlupe richtete sich sein Oberkörper in seinem Bett auf, während sein Brummschädel ihm nur allzu schmerzhaft ins Bewußtsein rief, daß er gestern für seine bescheidenen Verhältnisse wohl doch ein wenig zu viel getrunken haben mußte. Vor allem der letzte doppelte Wodka mit diesem unbekannten Russen - der dann so nett war, ihn nach Hause zu fahren - schien es in sich gehabt zu haben. Auf alle Fälle konnte sich Lukas seit dem Verlassen des Lokals um Mitternacht an rein gar nichts mehr erinnern. Nicht daran, wie er nach Hause kam, und schon gar nicht daran, wie er dort bis ins Bett gelangte - und wer ihn dann bis auf Unterhemd und Boxershorts ausgekleidet hatte.

Svensson schaute an sich herunter und entdeckte auf seinem Unterhemd einen großen blutroten Fleck. In Gedanken redete er mit sich selbst: 'Oh nein! Auch das noch! Da muß ich mit diesem Iwan Sowieso wohl gestern Nacht auch noch einen Zwischenstop bei McMickeys eingelegt haben, wonach mir wieder einmal der verdammte Ketchup auf die Wäsche tropfte'. Leise vor sich hin fluchend begab er sich ins Bad, um dort mit ein wenig kaltem Wasser und etwas Reiben vielleicht doch noch zu retten, was unter Umständen eh nicht mehr zu retten war. Im Flur geriet er dabei leicht ins Taumeln. Eine gewisse Restbenommenheit stellte sich schlagartig ein, und ein pochender Schmerz ließ Lukas nach seinem Kopf greifen, an dem er zu seinem Entsetzen eine große klaffende Wunde an der Stirn ertastete. Nein, diesmal war es kein Ketchup auf seinem Hemd, diesmal war es Blut - sein Blut! Irgendwer mußte ihm gestern Nacht in seinem hilflosen Zustand auf den Kopf geschlagen haben. Oder war er vielleicht auch einfach gestürzt und irgendwo gegengeschlagen? Nun ja, Yelena würde es schon wissen! Ja, genau! Yelena. Wo war sie denn eigentlich? Seine Hand ertastete in diesem Moment quasi im Blindflug den Lichtschalter des Badezimmers, und schon eine Sekunde später wurde es ganz und gar hell um ihn her. Sogar so hell, daß er die Augen ersteinmal schließen mußte.

Lukas hielt seine Stirnwunde mit zugekniffenen Augen kurz unter den zuvor aufgedrehten Wasserhahn. Dann stellte er sich in voller Größe vor dem Spiegel auf und öffnete vorsichtig die Augen, um sich seine Verletzung einmal genauer zu betrachten. Aber statt an dem langen Riß in seiner Stirn blieb sein Blick an etwas ganz anderem haften, nämlich an dem, was da in kleinen Druckbuchstaben offensichtlich mit einem lila Glitzerlippenstift auf das Spiegelglas geschrieben stand. Der erstarrte Svensson las es, wieder und wieder - und auch beim zwanzigsten Mal konnte er es einfach nicht begreifen und schon gar nicht glauben: "Liebster Lukas! Ich kann mein Leben nicht mit Dir teilen! Das ist mir heute Nacht ganz deutlich klargeworden! Und darum verlasse ich Dich! Suche mich bitte nicht! Ich gehe von hier fort, weit fort! Nichts hält mich nun mehr hier! Ich liebe Dich einfach nicht genug, um Deine angetraute Ehefrau werden zu können! Vergiß mich! Lebe wohl, Deine Yelena!"

Svensson verstand die Welt nicht mehr. Er hatte doch immer gespürt, daß sie ihn liebte. Sein Gefühl konnte ihn einfach nicht so getäuscht haben. Und außerdem hatte sie doch noch nie so einen Lippenstift benutzt. Wo hatte sie den denn plötzlich her? Und warum schrieb sie plötzlich so ganz ohne auch nur einen einzigen Fehler? Nein, bestimmt war das alles nur ein dummer Streich - als krönender Abschluß des gestrigen Abends vielleicht?! Lukas mußte Gewißheit haben. Er lief zurück ins Schlafzimmer, öffnete alle Schränke und Schubladen. Alle ihre Kleider waren noch da, nur ein paar Schmuckstücke fehlten. Instinktiv griff sich Svensson an sein rechtes Handgelenk - ja, der Armreif von Jack war auch verschwunden! Aber das alles war ihm im Moment gar nicht so wichtig, für ihn zählte einzig und allein eins: Seine über alles geliebte Yelena - sie konnte, nein, sie durfte ganz einfach nicht weg sein! Nicht so und schon gar nicht heute! Zaghaft begann er ihren Namen zu flüstern, erst nur im Schlafzimmer, dann rief er ihn etwas lauter im Flur. Dann ganz laut im Treppenhaus, von wo aus er als Echo gleich mehrfach wiederhallte. Eine Minute später schrie er ihn durch die ganze Wohnung und brüllte ihn anschließend in völliger Verzweiflung aus dem geöffneten Fenster des Wohnzimmers hinaus - mitten hinein in die gerade erst langsam erwachende Londoner Innenstadt. Doch so sehr er sich auch die Kehle aus dem Hals schrie, es änderte alles nichts an jener unverrückbaren, niederschmetternden Tatsache ...

Yelena war und blieb verschwunden ...

[ENDE]