INSPEKTOR SVENSSON: ABSCHIEDSVORSTELLUNG [Der neue Fortsetungsroman]

"Der letzte Vorhang fällt. Eine bislang unfaßbare Bedrohung nimmt langsam Gestalt an. Mein Leben und das derer, die mir am Herzen liegen, steht auf dem Spiel. Bekannte wie unbekannte Gesichter betreten die Bühne und spielen ihre Rolle in dem Stück "Der Untergang der Erde". Ich bin Ex-Inspektor Lukas Svensson, und das hier sind die letzten Tage meines Lebens"

EPISODE 04: Wenn die Blumen weinen könnten

Punkt Mitternacht nahmen schlagartig sowohl das Wehen des Windes als auch das Herabfallen des schwarze Regen so deutlich an Intensität zu, daß Lukas Svensson sein Tanzvergnügen mit der blühenden Erscheinung Sunnys abrupt abbrechen mußte. Und da ihm der aufkommende Sturm dabei auch noch die letzte momentan verbliebene Lebensabschnittsgefährtin zu entreißen drohte, sah er sich genötigt, sich mit der ganzen Gewalt seines wuchtigen Körpers zwischen den windigen Angreifer und die zarte Freundin zu werfen. Er umfaßte mit seiner linken Hand den Blumentopf ganz fest und drückte das in ihm befindliche zarte Pflänzchen dicht an seine bloße Brust. Dann schnappte er sich mit der Rechten noch rasch sein Handy vom Dach des nahestehenden Autowracks und enteilte mit beidem, so schnell es entgegen dem Wind eben ging, in Richtung St.Pauls. Denn im Innern des Gotteshauses erhoffte er sich - wie biblisch zugesichert - Schutz, auch vor den klimatischen Auswüchsen jener von Menschenhand ausgelösten, atomar bedingten Naturkatastrophe. Gemeinsam mit Sunny und dem Mobiltelefon ließ er sich gleich am Eingang der Kathedrale auf der am Boden liegenden Holztür nieder, wobei er seine nackten, wunden Füße über den hölzernen Türrand hinweg auf dem wohltuend kühlenden gefliesten Kirchenboden aufsetzte. Minutenlang hatte er daraufhin sichtlich bedrückt dem zunehmenden Wüten von Wind und Regen zugesehen, als er rechts neben sich einmal mehr das Vibrieren seines Handys bemerkte. Er drückte die inzwischen wohlvertraute grüne Taste, führte das Telefon etwas widerwillig ans Ohr und lauschte der krächzenden Verlautbarung Crawlers, die dabei ertönte: "Tag 4: Ohne Sonne und ohne Wasser kann auf die Dauer kein Lebewesen auf Erden existieren. Die Tage der letzten noch verbliebenen organischen Erdenbewohner sind damit gezählt. Nach Mensch und Tier segnet nun auch die Pflanzenwelt nach und nach das Zeitliche. Und die Erde verkommt damit vom ehemals blauen endgültig zum toten Planeten. Ein unansehnlicher, trostloser Gesteinsbrocken, der - wie all die anderen seiner Art - nur noch nutzlos durchs Weltall kreist! Der Tod aber wird damit zugleich in der alles entscheidenden letzten Schlacht endgültig zum Sieger über das Leben gekürt!". Lukas riß sich das Handy vom Ohr und legte es sichtlich angewidert neben sich. Er hatte es satt, auf das elende Geschwätz dieses seelenlosen Lumpen zu hören. Und wenn dieser Irre in seinem Wahn sich nun auch anschicken würde, alle Pflanzen auf dieser Erde zu vernichten, so hätte er doch bei Sunny diesmal ganz gewiß keine Chance. Sie stand nämlich unter Lukas Svenssons ganz persönlichen Schutz. Und da sie sich aus eigenem Antrieb nicht bewegen konnte, mochte auch nichts und niemand auf der ganzen Welt sie dazu verleiten, sich - wie der arme Vierbein - an dem totbringenden Wasser zu laben. Und es müßte schon mit dem Teufel zugehen, wenn er sein Blümlein somit nicht vor dem angekündigten Tode bewahren könnte. Nur allzugut vermochte er sich ausmalen, was bei der Prognose vom Ende des Pflanzenreichs in Crawlers krankem Hirn vorgegangen sein mochte. Dieser Satansbraten hatte sich wohl vorgestellt, daß Sunny und ihre Artgenossen draußen schutzlos Wind und Wetter ausgeliefert seien und daß sie über kurz oder lang entweder der Sturm abknicken oder der todbringende Regen vernichten würde. Aber da hatte der finstere Geselle Crawler die Rechnung fatalerweise ohne Meister Svensson gemacht. Nein, Lukas war sich gewiß, daß es diesmal absolut keinen Grund zur Beunruhigung für ihn gab. Auf diese Art in den folgenden Minuten immer mehr jener selbstverordneten Ruhe verfallend, nahm er allerdings nun zu seinem Leidwesen - zu ersten Mal seit langem - seinen Körper und dessen Signale auch wieder ganz bewußt wahr. Da waren zu allererst einmal ein recht lautes und unverhohlenes Grummeln in seinem Magen, das von einem mittlerweile unbändigen Hunger zeugte, und eine Trockenheit auf der Zunge, deren unheimlicher Durst ja nunmehr seit gut drei Tagen nicht mehr gestillt worden war. Lukas sah sich um. Doch anstelle eines möglichen Durstlöschers grinste ihm aus einer Ecke der Kirche lediglich ein verkohlter Feuerlöscher entgegen. Auch sonst waren weit und breit nur Schutt und die - inzwischen rasch anwachsenden - Pfützen konterminierten Regenwassers zu sehen, aber nichts auch nur ansatzweise Trinkbares oder Eßbares. Es sei denn ... Zögerlich warf er von der Seite her einen verstohlenen Blick auf seine pflanzliche Freundin, deren kerniges Blüteninneres ihn dabei geradezu anzuflehen schien, zur Stillung des ersten Heißhungers doch endlich auf es zurückzugreifen. Svensson aber war sich trotz des verführerischen Angebots noch immer unsicher, ob ein solcher einschneidender Übergriff auf seine - ohne ihn hilflose - Schutzbefohlene nicht das zarte Band, das gerade erst zwischen ihnen entstanden war, mit einem Male wieder jäh zerstören würde. Allein das leichte, in seinen Augen klar zustimmende Wiegen des sonnigen Blütenkelchs im Winde vertrieb all seine Bedenken. Behutsam löste er mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand oben links vier kleine Kerne aus ihrem Blütenverbund und stopfte sie sich in den ausgehungerten Mund. Er schloß dabei die Augen und kaute vorsichtig auf ihnen herum, um sie dann nach einer gefühlten Ewigkeit endlich herunterzuschlingen. Sein leerer Magen bedankte sich mit einem unterdrückten Rülpsen für die milde Gabe und verlangte damit zugleich nach mehr. Wieder zögerte Lukas, und wieder glaubte er das Nicken Sunnys zu erkennen. Erneut entnahm er der Blüte - diesmal oben rechts - vier Kerne, die er dann über seinen Mund seinem Magen zuführte. Desgleichen tat er daraufhin noch mit vier Kernen aus der Blütenmitte und einer ganzen Doppelreihe von Kernen aus der unteren Blütenhälfte. Sichtlich zufrieden kauend, schmatzend und schluckend, betrachte er sein kernspalterisches Werk und murmelte dabei ein wenig beschämt: "Danke, Sunny! Für Deinen selbstlosen Körpereinsatz zur Befriedigung meiner so lang schon unterdrückten, hungrigen Gelüste. Und sieh doch mal einer an! Bei meiner kleinen Freßorgie hab ich Dir ganz ungewollt sogar sowas wie ein kleines Gesicht verpaßt". Dabei tippte er geradezu liebevoll der Reihe nach in all die kahlen Stellen des kurz zuvor noch so makellosen Sonnenblumenblütenleibs und wisperte: "Punkt, Punkt, Komma, Strich ... fertig ist Sunnys Mondgesicht". Und andächtig seufzend fügte er hinzu: "Ach, weißt Du, Du bist in dieser schrecklichen Finsternis hier einfach der einzige Lichtblick für mich! Du bist echt mein heimlicher Star, Kleines!". Zur Bekräftigung dieser Aussage aber drückte er seine trockenen Lippen sogleich sanft auf ihr neu angelegtes, kernumbettetes Nasenloch.

Der erste Hunger bei Lukas war gestillt, und hatte damit auch das Durstgefühl bis auf weiteres scheinbar erfolgreich verdrängt. Dennoch wurde dieses kurzzeitige Glücksgefühl gleich wieder gedämpft und überdeckt von einem noch viel schlimmeren und überwältigenderen Gefühl - dem des Schmerzes. Jenes fühlbaren Schmerzes, den jede einzelne Pore seines arg geschundenen Körpers stechend und brennend ausstrahlte, aber auch jenes ebenso begreiflichen Schmerzes, der tief aus dem Innern seiner Seele entsprang und auf dem plötzlichen bitteren Verlust all seiner Bezugspersonen und seines so vertrauten und wertgeschätzten Lebensumfelds beruhte. Nichts um ihn herum war mehr so wie früher, und das begann ihn in diesem Moment mehr denn je zu ängstigen. Eines war ihm dabei klar: Wollte er dem aufkommenden, niederschmetternden Gefühl jetzt und hier nicht auf der Stelle erliegen, mußte er für sich einen Ausweg finden. Einen, der ihn einmal mehr vergessen ließ, was eh nicht zu ändern war. Und dieser Ausweg hieß für ihn ein weiteres Mal, Hilfe und Trost zu suchen in der Vergangenheit. Er erinnerte sich an seine Eltern und seine Kinderzeit, vor allem an die weit zurückliegenden Nachkriegsjahre im damals stark zerstörten Ostteil der deutschen Hauptstadt Berlin. Er dachte daran, wie er so manchen Abend nach dem Genuß einer spärlichen Wassersuppe mit noch immer knurrendem Magen und aufgestoßenen Knien auf seinem Strohsackbettlager wartete, bis seine von den Sowjets als Trümmerfrau eingesetzte erschöpfte Mutter vom Steineklopfen zurückkehrte. Sie pflegte sich dann nämlich stets noch ein halbes Stündchen zu ihm zu setzen und ihm eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen, bevor ihr selbst die müden Augen zufielen. Meist benutzte sie dabei einen der alten Krimischmöker, die sie einmal bei der Arbeit irgendwo in den Trümmern abgestaubt hatte. Oder aber sie las mit funkelnden Augen aus dem einzigen Buch, das sie auf ihrer überstürzten Flucht aus dem ostpreußischen Königsberg hatte retten können. Jenes kostbare Kleinod, das sie auf der ganzen beschwerlichen Reise stets sorgsam im aufgetrennten Fell ihres Wintermantels in Brusthöhe nahe ihrem Herzen verwahrt hatte - die Bibel. Sie war und blieb zeitlebens ihr Ein und Alles und der einzige Bestseller für sie. Den zweiten vermeintlichen Bestseller der gerade erst zuendegegangenen Zeit, den ein - sich zu Höherem berufen fühlender - Gefreiter mit Seitenscheitel und gestutztem Bärtchen während seiner Haft verfaßt hatte und bei dem nicht nur der Titel vom Kampf sprach, besaßen sie und ihr Mann Josef selbst nie. Und wenn Maria bei ihren arbeitsbedingten Trümmerbegehungen hier und da einmal ein solches Exemplar in die Hände fiel, dann nutzte sie es sinnvoll, indem sie mit den, ausnahmslos mit menschenverachtendem, haßerfülltem Geschwätz bedruckten Papierseiten das Feuer im gußeisernen Ofen ingange hielt. Lukas selbst hatte den ominösen Schreiber des Hetzwerks nie bewußt kennengelernt, und dennoch hing der Schatten jenes Weltenbrandstifters zeitlebens auch über seinem Dasein. Eh Svensson es sich versah, war er bei all seiner Grübelei wieder einmal mittendrin in jener längst vergangenen Zeit. All die Bilder von damals liefen nun wie ein Film vor seinem geistigen Auge ab, so als geschehe all das Erlebte gerade eben erst. All die damit verbundenen, nun in ihm aufkommenden Gedanken aber drohten Svenssons begrenztes Hirn gleichsam zum Überlaufen zu bringen. Und so benutzte er seinen ausgetrockneten Mund quasi als Ablaßventil und teilte seinen kindlichen Erfahrungsschatz einmal mehr wortreich mit dem stumm lauschenden Blümchen an seiner Seite: "Weißt Du Sunny, das ist nämlich so. Als kleiner Steppke spielte ich mit den Jungs aus meiner Klasse am liebsten in den Trümmern. Wir wurden dabei über die Zeit zu einem recht verschworenen und gefürchteten Haufen, den man in unserem Kiez nur noch als die Bande des Schreckens bezeichnete. Keiner von uns Lausbuben war damals an sich ein besonders großes Licht. Aber gemeinsam als Team waren wir einfach unschlagbar. Ja, ich erinnere mich ganz genau! Da gab es Kinskis schmächtiger Klausi, der war beim letzten Luftangriff auf Berlin Anfang Mai 1945 noch mit seiner Mutter verschüttet worden und seitdem wohl ein wenig übergeschnappt. Auf alle Fälle neigte er zu extemen Stimmungsschwankungen und recht theatralischen Auftritten, wobei er uns - stets in eine, von seiner älteren Schwester zurechtgeschneiderte Lumpensackkutte gehüllt - mit einer Weidengerte zu verprügeln drohte. All das zusammen führte dazu, daß wir ihm den Spitznamen 'Mönch mit der Peitsche' verpaßten. Und da war Arendts Ed, immer zu Scherzen aufgelegt, und dennoch mit seinen jungen Jahren schon ein echt gerissener Gauner, wenn es darum ging Spielkarten und Würfel unauffällig so zu präparieren, daß er jedes Spiel haushoch gewann. Man, welch einen Reichtum an gewonnenen Murmeln und Knöpfen hat uns sein Können damals eingebracht - und ihm brachte es zudem den Spitznamen Zinker. Dann gab es da noch den recht kleinen, unscheinbaren Sohn des Seemanns Clarin, Hansi gerufen. Der spielte immer ganz gedankenversunken mit den indischen Tüchern, die sein Vater einst von einer seiner Reisen mitgebracht hatte, und bekam dabei hin und wieder ganz glasige Augen und einen merkwürdig starren Blick. Frag mich jetzt nicht warum, aberder hieß bei uns nur der Würger oder aber Hänschenklein. Ansonsten waren da noch Draches Heinzi und der Jo vom alten Fuchs Berger. Unser Bandenältester aber war sogar ein richtiger Zauberschüler. Der Sohn des Großen Lowitz, mit Vornamen Siggi. Wir hingegen nannten ihn wegen seiner gespielten Chefrolle und seiner Tricks nur der Alte oder der Hexer. Ich hatte übrigens auch einen Spitznamen, aber den sag ich Dir nur ganz leise ins Ohr ...". Vorsichtig beugte sich Lukas Svensson zur goldgelben Blüte Sunnys herunter, hielt sich die Hand vor den Mund und flüsterte ihr zu: "Ich war für alle anderen immer nur der Wichser". Dabei schaute er der blühenden Schönheit an seiner Seite tief ins frisch erschaffene Sonnenblumenkerngesicht und glaubte dort, ein leichtes Entsetzen - ja sogar ein kerniges Erblassen - zu erkennen. So sah er sich nun doch zu einer weiterführenden Erklärung seines kindlichen Beinamens genötigt und ergänzte kopfschüttelnd: "Oh Sunny, nicht, was Du jetzt vielleicht meinst! Mensch, ich war doch grad erst sechs, da denkt man an sowas noch gar nicht. Nein, die Jungs nannten mich vielmehr so, weil ich mir auf den Straßen Berlins damals ein paar Groschen verdiente, indem ich vorbeigehenden Passanten mit einem alten Taschentuch und etwas Spucke die staubigen Schuhe blankpolierte".

Gespannt auf ihre Reaktion schaute Lukas erneurt zu Sunny herüber, und es war ihm dabei, als ob der von ihm gestaltete Mund sich an beiden Seiten zu einem Lächeln hochzog, während sich zeitgleich die Blätter am Stengel entspannten. Auch Lukas schmunzelte. Also nein, sowas! Was für eine verdorbene Phantasie so unschuldig ausschauende Blumen doch manchmal hatten?! Dachte sie etwa wirklich, daß er ...?! Nun ja, und wenn schon! Lukas Svensson war jedenfalls beim Geschichtenerzählen inzwischen längst ganz in seinem Element. Und so kam er in den darauffolgenden Stunden quasi vom Hundertsten ins Tausendste. Er berichtete ausschweifend und blumig von der Flucht mit seinen Eltern nach Westdeutschland und ihrer anschließenden Übersiedlung nach England im Juli 1953. Und dann sprach er leise und sichtlich bewegt über den tödlichen Unfall seiner Eltern am Heiligen Abend des Jahres 1955. Die Tränen, die bei all der wieder hochkommenden schmerzlichen Trauer angesichts des Berichts von jenem tragischen Verlust über Lukas Wangen gekullert kamen, hatten gar keine rechte Zeit zum Trocknen, so rasch folgte in seinem chronologischen Rückblick der nächste Schicksalsschlag, den Svensson mit bebender Stimme, und dennoch wie gewohnt in allen Einzelheiten beschrieb: "Es war einmal mehr ein 9.November. Jener Tag, an dem das Schicksal immer wieder - auf die eine oder andere Weise - Geschichte zu schreiben pflegt. In diesem Fall schrieben wir das Jahr 1956. Mein Onkel und ich hatten uns gemeinsam ein Fußballspiel von Arsenal angeschaut und waren auf dem Weg nach Hause. Dabei fiel Onkel Helmut ein, daß er ja noch ein paar Blumen für das Grab seiner verstorbenen Frau Elisabeth besorgen wollte und gar kein Geld mehr in seiner Börse hatte, womit das grausige Schicksal seinen Lauf nahm. Mein Onkel machte nämlich eine Querstraße weiter Stop an der Western Union Bank, um von seinem dortigen Konto 50 Pfund abzuheben. Mich wollte er dabei in seinem Pickup zurücklassen, aber ich quengelte solange, bis er mich an der Hand mit sich nahm. Und so stand ich wenige Minuten später neben ihm am Schalter, wo ihm die nette Schalterbeamtin gerade das Geld vorzuzählen begann, und schaute mich um. Dabei bemerkte ich plötzlich am Haupteingang einen Mann mit einer gruseligen Teufelsmaske vorm Gesicht, der hinkend und dennoch eiligen Schrittes in die Bank stürmte, unter seinem schwarzen Ledermantel eine abgesägte Schrotflinte hervorzog und 'Überfall! Alles auf den Boden!' schrie. Instinktiv gingen all die um mich stehenden Menschen in die Knie und warfen sich dann, wie befohlen, mit dem Gesicht zur Erde - auch mein Onkel. Nur ich blieb stehen, sah den Maskierten ungläubig an und sprach mit fester, ruhiger Stimme: 'Bei allem Respekt, aber das, was Sie hier vorhaben, ist ein schwerer Bankraub und wird vom Gesetz hart bestraft, Sir. Und außerdem verstößt Ihr Tun ganz klar gegen Gebote Gottes, wo es heißt: Du sollst nicht stehlen!'. Der bewaffnete Gängster aber täuschte kurz ein müdes Grinsen an, dann schrie er: 'Zu wem gehört dieser elende, vorlaute Rotzlöffel?'. Die Hand meines Onkels - und mit ihm schließlich auch er - schnellten in die Höhe, wobei er stammelte: 'Tun Sie ihm bitte nichts, Sir! Er ist doch noch ein unschuldiges Kind!'. Wieder grinste der Mann unter seiner Maske kurz, dann hinkte er bis auf drei Schritte an meinen Onkel heran und raunte: 'Mag sein, aber dann werde ich ihm diese Unschuld jetzt ein für allemal rauben!'. Mit diesen Worten hielt er Onkel Helmut blitzartig den abgesägten Flintenlauf direkt vors Gesicht und drückte eiskalt ab. Es gab einen mörderischen Knall. Schrotsplitter flogen in alle Richtungen, und das entsetzte Gesicht meines Onkels verschwand für immer in einem, aus ihm hervortretenden, gräßlich dunkelroten Blutmeer. Der Körper meines Anverwandten aber sackte wie ein Stein zu Boden, woraufhin sich das aus seinem - nur noch teilweise vorhandenen - Kopf weiterhin unvermindert hervorschießende Blut über seinen Körper und rings um ihn herum ausbreitete. Diesen grauenvollen Anblick, der sich mir als Zwölfjährigem dabei bot, werde ich meinen Lebtag nicht vergessen können. Der Mörder meines Onkels aber warf sein noch rauchendes Mordwerkzeug achtlos zur Seite. Dann zog er aus dem Mantel einen Revolver hervor, spannte den Hahn und stieg völlig unbeeindruckt über sein sterbendes Opfer und die ihn umschließende Blutlache hinweg. Und mit vorgehaltener Kanone ließ er sich in aller Ruhe von der noch völlig schockierten Frau am Schalter die gesamten Tageseinnahmen der Bank aushändigen - alles in allem gerade mal 5000 Pfund! Danach verschwand er spurlos. Bis heute hat man den widerlichen Kerl nicht gefaßt". Weinend schloß Lukas Svensson seine dramatische Geschichte und gönnte sich und dem Andenken an seinen getöteten Onkel daraufhin eine kurze Minute des Schweigens.

Was dann folgte, war für Svensson gänzlich untypisch. Recht wortkarg und abgehackt kam ihm die Schilderung von den darauffolgenden Jahren, welche er - nun auch seines letzten greifbaren, lebenden Verwandten beraubt - im Kinderheim "Sunshine" nahe London zwischen 1957 und 1962 verbrachte, über die Lippen. Nur am Rande merkte er dabei fast schon beiläufig an, daß der Alltag dort keineswegs immer eitel Sonnenschein war, wie es der Name einem so vollmundig versprach, sondern daß er vonseiten der anderen Kinder als ein in Nazideutschland Geborener immer wieder Beschimpfungen und Schikanen ausgesetzt gewesen sei. Lukas Svenssons gedrückte Stimmung verbesserte sich hingegen sofort wieder zusehends, als er über seine spätere Ausbildung zum Polizeibeamten in den Jahren von 1965 bis 1967 berichtete. Er gab dabei geradezu vergnügt einige Anekdoten von seiner 18jährigen Zeit als Streifenpolizist zwischen Januar 1968 und März 1986 zum besten - vor allem die Geschichte seiner Bekanntschaft mit dem Falschspieler Jack Holmes und der davon herrührenden Verwundung, die auch endgültig sein Aus als Streifenpolizist besiegelte und ihn von April 1986 bis August 1995, auch auf das Drängen seiner damaligen Verlobten hin, zu einem Beamten im Innendienst der Londoner Metropolice verdonnerte. Und bei dieser Begründung für sein vorübergehendes Ausscheiden aus dem aktiven Dienst auf der Straße war er in seiner spannenden Lebensgeschichte auch schon direkt beim nächsten Abschnitt angelangt - der das Kennenlernen seiner zukünftigen Frau Nina Simowa im Oktober 1983, die Hochzeit mit ihr im April 1985 sowie die Geburt ihrer gemeinsamen Tochter Lisa im Oktober 1989 und letztendlich auch die Scheidung der sich mehr und mehr auseianderlebenden Eheleute im Mai 1993 umfaßte. Es schlossen sich noch diverse Geschichten über seine Dienstzeit beim Yard in den Jahren 1995 bis 2009 an. Vor allem aber begannen seine Augen zu strahlen, als er von den Begegnungen mit Yelena berichtete, von ihrer gemeinsamen Feier seines zehnjährigen Dienstjubiläums im Hyde Park, die sich dann abends bei einem Gläschen Wein in Yelenas Wohnung noch bis in spät die Nacht rasch inniger werdend fortsetzte. Den krönenden Abschluß von Lukas Ausführungen aber bildeten der Kriminalfall zweier Frauen am Zug, die dramatische Vorgeschichte seiner Traumochzeit mit Yelena, die anschließende mehrmonatige Flitterwochenweltreise der Frischvermählten und Lukas' gleich danach beginnender Ausflug ins Detektivgewerbe an der Seite seines Freundes Charles Wannabe. Mit einem kurzen Blick auf das Display seines Handys, dessen Digitaluhr 23 Uhr 56 zeigte, gipfelte der Ex-Inspektor schließlich in dem Satz: "Tja, Sunny, das war in groben Zügen mein aufregendes Leben. Natürlich hätte ich noch weiter ausholen und viel mehr erzählen können, aber dann hätte ich Dich am Ende noch zu Tode ...". Svenssons Redefluß stockte abrupt, als sein Blick auf den blauen Topf zu seiner Linken fiel, über dessen kreisrundem Rand sich Sunny Flowers - scheinbar schon längst in sich zusammengefallener - Körper nun in seinem ganzen traurigen Umfang ausbreitete. Am ganzen Leib erschaudernd hob er mit zittrigen Händen behutsam ihren Blütenkelch hoch und blickte ihr dabei tief in das welkende Gesicht mit den eingefallenen Augen- und Nasenhöhlen, während der sich ebenfalls langsam schließende Mundkrater noch immer sanft zu lächeln schien. Verzweifelt ließ er die Blüte wieder ins Topfinnere absinken und reckte stattdessen beide Hände einmal mehr klagend zum Himmel empor: "Jetzt also auch noch sie?! Weshalb auch noch Sunny? Ich begreife das alles nicht! Warum muß alles, was ich liebgewinne, sterben? Und warum leb ich immer noch weiter? Gib doch dieser wundervollen Pflanze oder meinem treuen Hundfreund Vierbein und seinem Herrchen das Leben wieder und nimm Dir meinetwegen meines dafür! Was soll ich denn noch hier? Wo um alles in der Welt soll mich meine schmerzvolle - und weit über alle Grenzen des von einem Menschen Ertragbaren hinausgehende - Reise denn noch hinführen? Was bitteschön kommt da denn noch alles auf mich zu?". Und als ob irgendwo im angerufenen Himmelzelt jemand zumindest die letzte seiner so leidenschaftlich aufgeworfenen Fragen sofort beantworten wollte, verspürte Lukas mit einem Male eine rasch aufsteigende, klebrige Feuchtigkeit an seinen Füßen ...

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