INSPEKTOR SVENSSON: ABSCHIEDSVORSTELLUNG [Der neue Fortsetungsroman]

"Der letzte Vorhang fällt. Eine bislang unfaßbare Bedrohung nimmt langsam Gestalt an. Mein Leben und das derer, die mir am Herzen liegen, steht auf dem Spiel. Bekannte wie unbekannte Gesichter betreten die Bühne und spielen ihre Rolle in dem Stück "Der Untergang der Erde". Ich bin Ex-Inspektor Lukas Svensson, und das hier sind die letzten Tage meines Lebens"

EPISODE 02: Ein Freund, ein guter Freund

Das von Lukas vernommene Winseln entstammte der Kehle eines kleinen Hundes, der in diesem Moment aus dem dunklen Kircheninnern an ihm vorbei und dann die Treppe hinunter lief, um sich, am unteren Ende der Stufen angekommen, plötzlich schlagartig hinzuhocken. Doch es war keineswegs einfach nur irgendein Hund, dem Lukas nun von oben herab in seine großen traurigen Knopfaugen schaute. Nein, das war ohne jeden Zweifel Vierbein - der Hund Charles Wannabes - der da unweit von ihm entfernt wie angewurzelt saß und mit seiner Pfote wieder und wieder über einen der vielen weißen Schatten auf dem schwarzen Erdboden rieb. Langsam lief nun auch Lukas die Treppe hinab und auf das Tier zu, wobei ihn mit jedem einzelnen Schritt zunehmend ein ungutes Gefühl beschlich. Er erinnerte sich nämlich in diesem Augenblick an sein letztes Telefonat mit seinem Partner Charles am Silvestermorgen, bei dem dieser ihm mitteilte, nach Mitternacht mit seiner Freundin Claudia und dem adoptierten Cedrick kurz nach Mitternacht die Neujahrsmesse in St.Pauls besuchen zu wollen. Nur zögerlich wagte es Lukas bei seinem Eintreffen auf der untersten Stufe, einen genaueren Blick auf jenen weißen Schatten zu werfen, an dem Vierbein da unmittelbar vor ihm so unablässig scharrte. Und tatsächlich: Wenn man sich die grauenhaften Schattierungen eingehender betrachtete, erkannte man, daß sich rechts und links von dem bewußten Schatten zwei weitere abzeichneten - ein kleiner und ein großer - die den mittleren an je einer Hand festzuhalten schienen. Beinahe stellte jenes grausige Schattenspiel eine exakte Negativkopie der Schnee-Engel-Gruppe dar, die Lukas und seine Eltern einst auf dem Berliner Flughafengelände hinterlassen hatten. Zweifelsfrei handelte es sich somit in Svenssons Augen bei den vorliegenden Schatten um die von Charles Wannabe, Claudia Palmer und Mike L.Jag's Sohn Cedrick. Die Drei hatten vermutlich mit all den anderen hier Versammelten noch vor dem Gottedienstbesuch das große Feuerwerk zum Jahreswechsel bestaunt und waren dann von der Detonation der Atombombe überrascht worden, während Vierbein aus Angst vor dem auf ihn bedrohlich wirkenden Feuerwerk bereits zuvor in die Kathedrale geflüchtet war und damit als Einzigster sein Leben noch rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatte. Bestürzt fiel Lukas auf die Knie, wobei sich seine wunden Hände auf das struppige Fell Vierbeins legten und wieder und wieder verzweifelt darüber hinwegstrichen, so als hoffe er, gleichsam mit einem Handstreich das ganze Grauen dieser schrecklichen Nacht einfach ungeschehen machen zu können. Jenes bemitleidenswerte Trauerspiel zwischen Lukas und seinem tierischen Leidensgenossen mochte wohl eine ganze Stunde gedauert haben, und es hätte auch sicher noch länger gewährt, wenn nicht Vierbein mit einem Male mit seiner rauhen Zunge über Svenssons linke Wange geschleckt und ihn damit aus einem apathieähnlichen Zustand zurück in die schmerzliche Realität geholt hätte. Erst jetzt bemerkte der Ex-Inspektor das wiederkehrende Vibrieren in seiner rechten Hand, das - wie er nun wußte - von einer weiteren Nachricht auf seinem Handy kündete. In der stillen Hoffnung, am anderen Ende die Stimme Yelenas zu vernehmen, drückte er die grüne Hörertaste und führte das Telefon ans Ohr. Doch zu seinem Leidwesen meldete sich erneut eine ganz andere, krächzende Stimme räuspernd zu Wort: "Tag 2: Nach der Ausradierung der Menschheit wird nun auch das Schicksal des Tierreichs besiegelt. Durch die Aufnahme radioaktiv verseuchten Futters und Wassers verenden auch diese Kreaturen innerhalb kürzester Zeit jämmerlich und qualvoll und sorgen so dafür, daß alles Leben auf der Erde nun endgültig für alle Zeit zum Schweigen verurteilt ist". Mit einem kurzen Piepton endete die düstere Ansage Derrik Crawlers. Lukas aber ballte seine Faust um das Handy, während er mit der anderen Hand Vierbeins zitternden Hundeleib umklammerte und ihn mit sich aufhob. Und seine trockenen Lippen preßten mit zorniger Entschlossenheit hervor: "Nein, da irrst Du Dich, Crawler! So wie Du Dich geirrt hast, als Du glaubtest, die Menschheit komplett auslöschen zu können, so werde ich alles daransetzen, Dir auch diesen Teil Deines teuflischen Plans gründlich zu durchkreuzen! Vierbein wird leben, so wie auch meine Yelena Deinen skrupellosen Massenmord überlebt hat! So wahr ich hier stehe!". Ein heftiges Stampfen von Lukas' nacktem rechten Fußes ließ wie zur Bekräftigung seines sich selbst gegebenen Versprechens die Erde unter ihm erbeben. Dann aber stapfte er festen Schrittes, den Hund Wannabes mit seinem Arm fest umklammernd, über die Geröllmassen vor dem Kirchenvorplatz - Ausschau haltend nach dem einst ganz in der Nähe befindlichen Eingang zum U-Bahnhof.

Es dauerte wohl mehr als zwei weitere Stunden, bis er die gesuchte Stelle endlich ausgemacht hatte. Die nur ganz leicht aus all dem Schutt herausragende Spitze eines runden U-Bahnschildes war dabei der alles entscheidende Hinweis. Doch rund um das Schild herum türmten sich weit und breit nur verkohlte Autowracks und jede Menge Geröll. Svensson setzte seinen tierischen Begleiter auf einem der Autowrackdächer ab, wobei er den hechelnden Vierbein genaustens instruierte: "Schön hier sitzen bleiben, mein Kleiner, während Onkel Lukas da drüben nach Tante Yelena buddelt. Nicht wegrennen und auf gar keinen Fall das häßliche schwarze Wasser trinken, verstanden?!". Vierbeins Kopf mit der weit heraushängenden staubtrockenen Zunge wackelte dreimal vor und wieder zurück. Zufrieden legte Lukas nun auch sein Handy zu Füßen des zitternden Hundes ab und ergänzte dabei: "Und schön auf das Telefon aufpassen, ja?! Und wenn es zu brummen anfängt, was tust Du dann, na?!". Ein lautes Kläffen war die Antwort des verständigen Vierbeiners. Lukas aber nickte lächelnd und kraulte den ehemaligen Streuner hinterm wuscheligen Ohr. Dann begab er sich ein paar Meter weiter zu dem vermeintlichen Treppeneingang des U-Bahnhofs und begann, mit bloßen Händen Stück um Stück das Gestein und die es umschließenden Staubmassen abzutragen. Er grub Stunde um Stunde, und gönnte sich nur dann eine kurze Pause, wenn es unbedingt nötig erschien, weil ihm der kaum zu ertragende Schmerz seiner aufgeplatzten Hände sonst womöglich eine neuerliche Ohnmacht beschert hätte. Das Handydisplay zeigte schließlich 14.21 Uhr an, als Lukas die Hälfte der Treppe freigelegt hatte. Er gönnte sich eine kurze Auszeit, wobei ihm Vierbein immer wieder mitleidig über die blutigen Finger leckte und mit seiner kalten Hundschnauze dem Ex-Inspektor einen aufmunternden Schmatzer aufdrückte. Auch der erschöpfte Lukas ließ seinem neuen Lebensabschnittsgefährten reichlich Streicheleinheiten zukommen, zumal es ihm wie eine Wohltat erschien, nach all den rauhen, kalten Gesteinsbrocken die Hände auf etwas so weiches und lebendiges wie das Fell dieses Tieres legen zu können. Und während er Vierbein so über den Rücken strich, da sprach er mit einem Male leise: "Weißt Du, kleiner Kumpel, ich hatte als Kind in meiner Zeit im östlichen Berlin auch mal einen Hund, der hieß Mohrchen. Mit dem hab ich manchmal stundenlang auf unserem Hinterhof herumgetollt, so wie es Charles immer mit Dir zu tun pflegte. Und ein kleines Kunststück konnte der auch. Wenn ich ihn drum bat, dann gab er mir nämlich seine Pfote zur Begrüßung. Ich mußte mich nur vor ihn hinknien, ihm tief in die Augen schaun und sagen: 'Mohrchen, gib Pfötchen!'. Dann tat er es, wieder und wieder. Wie unendlich traurig war ich doch, als ich ihn eines Tages mit allen Vieren von sich auf dem Bauch liegend fand, die Augen geschlossen, die Zunge heraushängend. Erst dachte ich ja, er schläft nur. Bis ich an diesem Tag zum ersten Mal in meinem jungen Leben begreifen mußte, was es heißt, wenn jemand tot ist. Was es bedeutet, wenn jemand einschläft, ohne je wieder aufzuwachen. Glaub mir, ich hab tagelang geheult wie ein Schloßhund. Erst nach Wochen hat sich meine Trauer langsam wieder gelegt. Und meine Eltern haben mir dann irgendwann eine Katze geschenkt, die ich Minka nannte. Die war so ganz anders als mein Mohrchen, vor allem, weil sie tatsächlich - wie man so schön behauptet - sieben Leben zu haben schien. Das verrückte Tier konnte einfach anstellen, was es wollte, es passierte ihm nie etwas Schimmes. Sie sprang vom 4.Stock aus dem Küchenfenster und landete auf den Pfoten. Sie soff aus einer Blechschüssel Wasser mit giftigem Farbverdünner, verdrehte kurz die Augen, übergab sich dann einmal im Hof und stand wieder auf den Beinen. Erst das Alter ließ sie irgendwann schwächer und schwächer werden und raffte sie am Ende dahin, wie uns alle eben. Jeden Menschen, jeden Hund, jede Katze und auch jedes andere Lebewesen auf dieser Erde!". Es tat Lukas Svensson sichtlich gut, sich nach all den Stunden der völligen Einsamkeit wieder einmal mit einem lebendigen Wesen unterhalten zu können, auch wenn die Unterhaltung in diesem Falle einem Außenstehenden eher einseitig erscheinen mochte. Tja, der Mensch war nunmal seiner ganzen Art nach ein soziales Wesen - für die Gemeinschaft und nicht zum Alleinsein bestimmt. Und ohne jegliche sozialen Kontakte und die Möglichkeit zur Kommunikation verkümmerte am Ende nicht nur sein Geist oder sein Gefühl - sondern vor allem auch er selbst.

Gedankenversunken hob Svensson seinen Kopf und entdeckte dabei auf einem aus dem Schutt etwas herausragenden Laternenmast eine kleine weiße Taube, die sich scheinbar ebenso auszuruhte wie er selbst und dabei ganz aufgeregt gurrte. Von einem Felsvorsprung in der Nähe gesellte ein kleiner Spatz seine Piepsstimme zu der ihren hinzu. Und irgendwo weiter weg pochte ein Specht seinen hungrigen Schnabel in einen der zahllosen verkohlten Baumstämme, die hier und dort astlos aus dem Schutthaufen von Londons City hervorlugten. Mit geschlossenen Augen stieß Lukas' staubige Kehle röchelnd einen Stoßseufzer hervor. Ach, wie herrlich einem doch dieses kleine, spontane Vogelkonzert erschien, wenn man mal für einen Moment all das Grauen um sich herum vergaß. Längst schon am Ende seiner Kräfte angelangt, genoß Lukas Svensson diesen Augenblick und bemerkte dabei nicht, wie ihm die schwergewordenen Augenlider gänzlich zufielen und der damit eintretende Schlummer seinem verbrauchten Körper jene Erholung gab, die der Ex-Beamte sich selbst nicht zu gönnen erlaubte. Der unruhige Schlaf Svenssons ließ vor seinem geistigen Auge ein recht absurdes Traumbild entstehen ... Er saß auf einer Art fliegendem Teppich und flog damit rückwärts eine lange Straße, eingerahmt von schmuddligen Häuserreihen, entlang. Der Teppich gewann dabei langsam an Höhe, und schließlich schwebte er über einer Art riesigem gläsernen Dach mit einer öden wüsten Landschaft darunter. Am unteren Ende des Traumbildes aber lief die ganze Zeit über ein Zeitzähler rückwärts mit. Als Lukas mit einem Ruck an den ihn umgebenden Fransen die Bewegung des Teppichs stoppte, zeigte jener Counter genau auf 00:06:00. Lukas Svensson war gelandet und erwartete nun, daß sich irgendwo vor ihm in einiger Entfernung gleich ein Atompilz in die Luft erheben würde. Dabei konnte er sich nicht auf die Beobachtung des vermeintlich zu Erwartenden konzentrieren, da ein monströser Blutegel aus einem Schmutzwassertümpel auftauchte und versuchte, sich an einem kleinen klebrigen Papierfetzen in Lukas' linker Hand festzusaugen. Es gelang Lukas auch nicht, den ekligen Wurm durch den Zugriff seiner rechten Hand dingfest zu machen. Das Biest war einfach zu glitschig und entkam ihm immer wieder. Stattdessen tauchte nun neben Svensson ein kleines Mädchen in einem dünnen weißen Nachthemdchen auf. Und in einiger Entfernung entdeckte er einen Mann mittleren Alters in pechschwarzer Uniform, der völlig unbeeindruckt von all dem, was gerade um ihn herum geschah, einfach nur dasaß und ununterbrochen die verstaubten Gläser eines Fernrohrs mit einem grauen Stofftaschentuch putzte ...

Das laut schmatzende, klebrige Schlecken Vierbeins an seiner Nase weckte Lukas aus seinem traumatischen Schlummer, der einmal mehr einige wertvolle Stunden in Anspruch genommen zu haben schien. Svensson schreckte hoch und setzte seine zuvor unterbrochene Ausgrabungsarbeit mit Feuereifer fort. Dabei stieß er inmitten von Asche, Staub und Geröll irgendwann auch auf eine, von Folie umhüllte und dabei wie durch ein Wunder nahezu unversehrte Sonnenblume in einem himmelblauen Keramiktopf. Ganz behutsam legte er sie mit seinen zittrigen Händen frei und platzierte sie dann wie einen Schatz neben Vierbein auf dem Dach des Autowracks. Anschließend grub er wieder weiter. Gegen 23.30 Uhr war er endlich bis auf den Bahnsteig vorgedrungen, wo er aber in der ihn dort umgebenden Finsternis auf Anhieb lediglich schemenhaft einen einzigen ausgebrannten und verlassenen U-Bahn-Zug wahrnahm. Er begann, aus voller Kehle Yelenas Namen zu rufen - wieder und wieder. Doch in den Pausen, die er dazwischen ließ, blieb bis auf das Heulen des den Bahnsteig durchziehenden Windes alles stumm. Immer weiter begab er sich auf dem Bahnsteig vorwärts und trat dabei schließlich mit voller Wucht in eine große Pfütze, so daß ihm das klebrige pechschwarze Naß bis an die Kniescheiben spritze. Unbeirrt lief er weiter, Schritt um Schritt, blieb wieder stehen, rief nach seiner geliebten Frau und wartete dann auf irgendeine Reaktion, um anschließend den Kreislauf seiner fortschreitenden Bemühungen von Neuem zu starten. Erst als seine tastende Hand vor ihm in Form einer steinernen Wand schon das Bahnsteigende spürte, vernahm er plötzlich in seinem Rücken leise zarte Schritte, die näherkamen und dann unvermittelt stoppten. Voller Hoffnung drehte sich Lukas um und rief: "Yelena?! Bist Du das, Yelena?!". Doch während ihm das Echo im U-Bahnhof in Form eines wiederholten, leisen "Yelena" antwortete, blieb die ersehnte Reaktion von anderer Seite gänzlich aus. Stattdessen war nunmehr ein lautes, wiederhallendes Schlabbern zu vernehmen, wie von einer Hundzunge an einem Wassernapf ... Lukas erstarrte vor Schreck und schrie: "Pfui, aus, Vierbein!". Aber es war längst zu spät. Der durstige Vierbeiner hatte in seiner Not bereits die halbe Pfütze aufgeleckt und lief nun reumütig zum Ausgang des Bahnhofs zurück. Mühsam erklamm er die vielen Stufen der freigelegten Treppe, schleppte sich zurück auf seinen Platz auf dem Dach des Autowracks, brach dort zusammen, übergab sich und japste verzweifelt nach Luft. Svensson, der ihm gefolgt war, aber legte behutsam seine Hand auf das schwarz-weiße Fell des Hundes und schluchzte: "Ach, Vierbein! Warum hast Du das getan? Du bist doch keine Katze! Du hast doch keine sieben Leben, sondern nur das eine! Jetzt behält dieser Dreckskerl Crawler ja doch recht mit seiner schrecklichen Prognose! Und ich bin wieder allein!". Und während der arme kleine Vierbein mit einem letzten lauten Stöhnen seine großen, rasch verblassenden Kulleraugen für immer schloß, senkte sich Svenssons tränenverhangener Blick weg von dem sterbenden Tier hin zu seinen eigenen zerschundenen Füßen. Seine Ohren lauschten dabei sehnsüchtig auf ein mögliches Vogelzwitschern, doch auch hier draußen war jetzt nur noch das eintönige Pfeifen des Windes zu hören - jenes kühlen Windes, der einige Meter entfernt auch die inzwischen leblosen Gefieder von Taube, Spatz und Specht umwehte ...

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