INSPEKTOR SVENSSON: WANNABE SVENSSON [Der neue Adventskalenderroman]

Die folgenden Ereignisse finden zwischen 15 und 16 Uhr am Vortag zum Heiligen Abend des Jahres 2009 nach Christi Geburt statt. Alles, was Sie lesen, ereignet sich in Koordinierter Weltzeit UTC.

23.12.2009 - 15:00 UHR

[Lukas trifft überfällige Entscheidungen, Wannabe begegnet einem flüchtigen Bekannten]

Bedächtigen Schrittes näherte sich Lukas Svensson, zuvor aus dem U-Bahn-Schacht des Bahnhofs "Baker Street" per Rolltreppe langsam aufgefahren, über die frisch vom Schnee befreiten Gehsteige dem zweigeschössigen Haus mit der Nummer 221B. Er klopfte sich schließlich, dort angelangt, den Schnee von den Schuhen, bevor er - seinen, im Regenmantel mitgeführten Schlüssel im Schloß herumdrehend - die schwere Holztür öffnete. Aus dem hinteren Teil des Hausflurs drang ihm dabei ein lautes Schnarchen entgegen, das zweifellos dem dort zusammengekauert auf der Bank liegenden Saxophonspieler Saxi zuzuordnen war. Svensson aber lächelte nur und ließ die Haustür vorsichtig hinter sich ins Schloß gleiten. Er näherte sich dem schlafenden Mann auf leisen Sohlen, wobei er sich im Gehen seinen Regenmantel und die Jacke seines Anzugs abstreifte, und dem Schlafenden letztere behutsam über den viel zu leicht bekleideten Leib legte. Dabei mußte er äußerst vorsichtig vorgehen, um nur nicht gegen das unter der Bank verstaute Instrument des Straßenmusikers zu treten und ihn so am Ende noch zu wecken. Anschließend machte Lukas Svensson auf dem Hacken wieder kehrt und schlich bedächtig die Stufen zum Obergeschoß hinauf. Dort hauchte er leise sein: "Gestatten, Sherlock Holmes!" in die Sprechbox von Wannabes achso teurem Schließsystem, dessen Computerstimme ihm sogleich ein "Willkommen zurück, großer Meister! Ich bitte einzutreten!" entgegenwarf. Die Tür sprang auf und schon stand er in seinem Büro vor einer sichtlich verdutzten Claudia Palmer, die erst einmal ihre schmale Brille auf der kleinen Nase zurechtrückte und dann sogleich losposaunte: "Schön, Sie zu sehen, Mister Svensson, Sir! Darf ich Ihnen einen Kaffee oder einen Tee anbieten und etwas Gebäck vielleicht? Nein?! Nun gut, Sie wollen sicher auch viel lieber gleich wissen, wie es um den Fall und um Charles ... ich meine, Mister Wannabe ... bestellt ist, nicht wahr?! Also gut: Da war erst einmal dieser Herr Butler, der den Paulus geschnitzt hat. Aber der hat Parkinson, und wohl nur deshalb bei der Befragung am ganzen Körper gezittert, und außerdem eigentlich auch gar kein erkennbares Motiv. Anders sein Pfleger, ein gewisser Alfred Robber, der hat ziemlich was auf dem Kerbholz, so mit Kunstdiebstahl und Vorstrafe. Vielleicht sogar mit Mord?! Und dann ist da noch dieser Kunstfreak Leon Ardo mit seinen 241 Fotos von der Paulusfigur. Ich hab da übrigens auch eine, die hat mir Charles ... Sir Wannabe ... per Mail geschickt. Ebenso wie eine mysteriöse Fußspur vom Tatort. Wenn Sie mal schauen möchten?!". Damit drehte sie den Designerlaptop auf dem Schreibtisch kurzerhand in Svenssons Richtung. Lukas warf einen kurzen Blick auf die beiden, zur Diashow zusammengestellten Bilder, denen sich versehentlich auch eine Fotografie von Charles Wannabe - in stolzer Pose vor einer Yacht namens "Giovanni" stehend - zugesellt hatte. Lukas mußte unweigerlich schmunzeln, was auch Claudia letztendlich nicht entging. Erstaunt drehte sie den Laptop wieder zu sich um und errötete ein wenig, wozu sie stammelte: "Das ... also das ... ich weiß gar nicht, wie das jetzt ... das gehört doch gar nicht ... zu dem Fall dazu ... Entschuldigen Sie bitte, Sir! ... Herrje, ist mir das jetzt aber peinlich!". Svensson unterbrach ihr Stottern mit einem milden: "Das muß Ihnen nicht peinlich sein, Claudia! Daß Sie und den guten Charles mehr verbindet als nur eine rein geschäftliche Arbeitgeber-Arbeitnehmerin-Beziehung, war ohnehin längst ziemlich offensichtlich. Zudem glaube ich, Sie haben einen recht guten Einfluß auf ihn, was mir doch im Grunde genommen nur recht sein kann. Und außerdem ist ihrer beider Privatleben ja auch ganz allein ihre Sache. Was nun den Fall angeht, so haben wir, wenn ich Sie richtig verstanden habe, momentan zwei heiße Spuren - und die heißen Alfred Robber und Leon Ardo. Hat sich Charles denn schon zurückgemeldet nach seinem Besuch bei Mister Ardo?!". Claudia schüttelte den Kopf: "Nein, noch nicht! Und erreichen kann ich ihn im Moment auch nicht. Hab's grad eben versucht, aber ich bekomme immer gleich die Mailbox, so als ob sein Handy aus ist oder er wieder in einem Funkloch steckt". Lukas Svensson überlegte kurz, wobei er sich mit dem Zeigefinger der rechten Hand langsam übers glattrasierte Kinn strich, dann sprach er: "Also gut, dann gehen wir zwei Hübschen jetzt zusammen noch einmal den einzelnen Spuren nach. Lassen Sie uns bei diesem Herrn Ardo beginnen! Vielleicht treffen wir da ja auch Ihren oder vielmehr unseren lieben Charles an!". Noch einmal erröteten Claudias Wangen, dann aber war sie bereits mit einem einzigen Satz am Garderobenständer, von dem sie in aller Eile noch ihre Lederjacke angelte, um dann mit Lukas Svensson gemeinsam das Büro zu verlassen und über Treppe und Hausflur nach draußen zu treten, wo Beide sogleich in Claudias Wagen einstiegen und mit ihm im Eiltempo um die Ecke davonbrausten.

Um die entgegengesetzt gelegene Ecke des Hauses kam nur eine Sekunde später der Pferdeschlitten mit Charles Wannabe und seinem kleinen Streunerfreund gebogen, und machte nach einem langgezogenen "Brrrr!" aus dem Munde des Privatermittlers direkt vor dem Hauseingang der Baker Street 221B Halt. Charles hüpfte, immer noch ganz in textilumhüllte Watte gepackt, vom Kutschbock und hob dann auch seinen schwanzwedelnden Fahrgast von der Ladefläche, wobei er ihm mit einem Leuchten in den Augen verkündete: "Wir sind da! Gleich gibts für meinen kleinen vierbeinigen Stadtstreicher ein leckeres Schüsselchen mit Wasser und für den Onkel Charlie hoffentlich einen guten edlen Schluck Whiskey". Und mit einem verschmitzten Augenzwinkern ergänzte er: "Ich hab da oben nämlich noch heimlich einen alten Flachmann gebunkert, mußt Du wissen! Und ich mein damit zur Abwechslung mal nicht den guten alten Lukas Svensson, meinen treuen Weggefährten und Partner". Er setzte den hechelnden Kläffer wieder auf dem Boden ab und eilte mit ihm in freudiger Erwartung die Stufen zum Eingang hinauf, worauf er den Klingelknopf unterhalb des goldenen Türschilds mit der Aufschrift "Wannabe Svensson" betätigte. Zu seiner Verwunderung rührte sich nichts. Kein Summen des Türöffners, keine Nachfrage über die Wechselsprechanlage, kein sich oben weitöffnendes Fenster. Etwas angesäuert knurrte Charles, in fast der gleichen Tonlage wie das zitternde, kleine Wollknäul zu seinen Füßen: "Da hast Du es, Pauli! Von wegen: 'Wenn sich Dir eine Tür verschließt, öffnet sich Dir dafür ein Fenster!'. Rein gar nichts öffnet sich hier! So ein Mist!". Wütend klopfte Charles mit der - sich zur Faust ballenden - kalten Hand gegen das Holz der Haustür. Erst nur einmal, mehr aus Versehen, dann noch zwei weitere Male mit Absicht und voller Wucht - einem Gefühl ohnmächtiger Verzweiflung nachgebend. Da war plötzlich engelsgleich hinter der Tür ein leises Stimmchen zu hören, dessen fast unverständliches Nuscheln einem Wunder gleich an Charles' Ohr drang: "Was ist denn das für ein Lärm da draußen? Kann man hier nicht mal in Ruhe pennen? Moment mal, ich komm ja schon! Bin schon unterwegs!". Ein immer näherkommendes Schlurfen war innen zu vernehmen, dann wurde knarrend die Tür aufgerissen, und ein verschlafener Mann, dessen äußere Erscheinung geradezu wie das Spiegelbild der von Charles Wannabe anmutete, stand mit weit aufgerissenen Augen da, und stammelte entsetzt: "Oh, Sie, Sir! ... Verzeihung! Ich ... Ich geh gleich! ... Bin schon weg! ... Tut mir leid ... Unendlich leid, Sir!". Mit ernster Miene packte Charles Wannabe den schmuddlig gekleideten Straßenmusiker am speckigen Kragen und knurrte: "So, Ihnen tut das also leid! Und Sie glauben allen Ernstes, damit sei es schon getan?! Damit ist die Sache hier erledigt, wie?! Nein, mein Lieber, so nicht! Die Sache ist noch lang nicht erledigt! Nicht für mich!"

. Plötzlich umspielte ein Schmunzeln Wannabes Gesicht, und er ergänzte: "Ich habe mich nämlich in aller Form zu entschuldigen! Und zwar bei Ihnen, mein lieber Mann. Was war ich vorhin nur für ein unsensibler Armleuchter! Renne Sie einfach über den Haufen und belle sie dann auch noch an, statt Ihnen aufzuhelfen und Ihnen einen warmen Platz für die Nacht anzubieten. Ich hoffe inständig, Sie nehmen meine Bitte um Verzeihung an und geben einem arroganten Lackaffen wie mir noch eine zweite Chance, vielleicht bei einem schönen heißen Kaffee?!". Dazu zog er das Restgeld aus der Tasche seiner Wattejacke hervor und übergab es dem staunenden Saxi. Dann pfiff Charles Wannabe seinen Hundefreund zu sich und schloß hinter ihm die Haustür wieder, so daß weder die Kälte herein noch die eh schon recht spärlich vorhandene Wärme hinaus strömen konnte. Sogleich streckte er dem Saxophonisten die Hand zur Versöhnung entgegen und verkündete: "Ich heiße übrigens Charles, mein Freund!". Zögernd ergriff der Musiker die Hand des plötzlich so veränderten Fremden und erwiderte: "Sehr angenehm, kannst mich Saxi nennen, Charles!". Wannabe nickte, während Saxi sich zum Getränkeautomaten an der Wand hin umdrehte und das Pfundstück des überreichten Kleingeldes in zwei Becher extraheißen Kaffee investierte. Die restlichen 94 Pence reichten laut der am Automaten angebrachten Preisliste gerade noch für einen Doppelpack eines karamelgefüllten, schokoumhüllten Keksriegels. Fragend schaute Saxi auf den hinter ihm stehenden Wannabe, der aber nickte eifrig: "Au fein, diesen Raider hab ich schon als Kind immer gern gemocht!". Saxi drückte sofort den entsprechenden Knopf am Automaten, worauf der folienverpackte Doppelriegel in dessen Schacht plumpste. Der Saxophonist entzog dem Automatenzugang die eingepackte Süßware, entledigte sie kurzerhand ihrer glänzenden Hülle, und reichte einen der beiden entnommenen Riegel an den Ex-Yard-Chef weiter, wozu er meinte: "Der heißt inzwischen zwar längst Twix, aber am Geschmack ändert das nix!". Genüßlich biß der nordirische Straßenmusiker daraufhin in seinen Riegel, Wannabe aber stellte seinen dampfenden Kaffee auf der Bank neben dem Automaten ab und legte seinen Schokoriegel quer darüber. Dann faltete er für einen Augenblick andächtig die Hände ineinander und ließ seinen Blick nach oben schweifen, wozu er raunte: "Gott sei Dank für Speis' und Trank! Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was Du uns bescheret hast! Amen!". Den Bissen in seinem Mund rasch herunterschlingend, stimmte Saxi in das "Amen!" ein und biß dann nur umso lustvoller noch einmal in den verbliebenen Rest seines Riegels. Charles wollte es ihm gerade gleichtun, als etwas an seinem linken Schienbein scharrte. Ein leises Winseln war zu vernehmen, worauf sich Wannabe sogleich zu seinem aufgeregten Hundefreund hinunterbeugte und sprach: "Meine Güte, wie konnte ich Dich nur vergessen, Du Strolch! Klar bekommst Du auch was!". Mit diesen Worten zerbrach er seinen Keksriegel in ein kleineres und ein größeres Stück, besah sich beide kurz und hielt dann das größere der beiden dem Hundchen hin, wozu er freudestrahlend ausrief: "Ja, ihr habt tatsächlich alle recht, Mum, Lukas, Claudia, Pauli, Diane! Geben ist seliger denn nahmen, und Weihnachten ist stets das, was man von Herzen gibt, nicht das, was man bekommt!". Er streichelte dem kleinen, verbissen an seinem Riegel knabbernden Tier über den zerzausten Pelz und biß mit einer Träne im Auge in das ihm übriggebliebene Stück Keksriegel, dessen köstliches Aroma er sich in aller Ruhe auf der Zunge zergehen ließ.

Im 20. Stock des Yard ging es derweil weitaus weniger genüßlich und andächtig zu. Jeffrey Douglas hatte in aller Eile den derzeitigen Leiter der Mordkommission, John Wayne Powerich, als Einsatzleiter für die von ihm soeben ins Leben gerufene Geheimaktion "Stopping A Bomb" auserkoren, den er nun im großen Konferenzraum gemeinsam mit den weiteren, allesamt von ihm höchstpersönlich handverlesenen Beamten des Yard in aller Eile über den bisherigen Erkenntnisstand und die exakte Vorgehensweise briefte. Am Ende der detaillierten Ausführungen von Sir Douglas erhob Inspektor Powerich die Hand und fragte überrascht: "Sir, haben Sie da bei Ihrer Planung nicht noch etwas vergessen?". Douglas schaute ihn überrascht an: "Keine Ahnung, was Sie meinen!". Powerich aber erhob sich von seinem Platz, beugte seinen Oberkörper leicht nach vorn und stützte sich mit den Handinnenflächen auf der gläsernen Platte des ovalen Konferenztisches ab, wozu er anmerkte: "Ich meine die Antiterroreinheit CI7 und ihren momentanen Chef, diesen Amerikaner Jack ...". Douglas winkte müde ab: "Was hat denn der Ami mit unserem Einsatz hier zu tun? Wir vom Yard sind ja wohl noch allemal manns genug, um die Sache hier allein durchzuziehen, oder, meine Herren?!". Zögerlich begannen einige der versammelten Köpfe zu nicken, unter dem prüfenden Blick ihres Chefs wurden es schließlich immer mehr und zuletzt waren es alle außer das halbkahle Haupt John Wayne Powerichs. Der erklärte unbeeindruckt: "Sir, das verstößt gegen jede Regelung bezüglich der Verantwortlichkeiten. Hier geht es eindeutig um einen Akt von internationalem Terrorismus! Und da ist nunmal der CI7 zuständig. Außerdem sollte auch Ihnen bekannt sein, daß jener Ami - wie sie ihn abschätzig zu nennen pflegen - in seiner aktiven Dienstzeit bei einer der erfolgreichsten Antiterroreinheiten in L.A. innerhalb von weniger als 24 Stunden einen ganz ähnlichen Fall zum Abschluß gebracht hat. Dabei ist es zu einem großen Teil seinem mutigen Handeln zu verdanken, daß die Bedrohung durch die Bombe seinerzeit aufgrund einer kontrollierten Explosion selbiger über unbewohntem Wüstengebiet nahezu komplett ohne Auswirkungen für die Bevölkerung von Los Angeles und Umgebung blieb". Erzürnt schlug Jeffrey Douglas mit der Faust auf den Glastisch, wozu er hysterisch losbrüllte: "Schluß jetzt, Powerich! Wenn Ihnen hier was nicht paßt, können Sie gern zurücktreten! Und das nicht nur von der Einsatzleitung, sondern gleich auch von Ihrem Posten als Chef der Mordkommission! Also, wie entscheiden Sie sich!". Einen Moment lang war es still im Raum, dann erwiderte John Wayne Powerich: "Also gut, wie Sie meinen! Dann trete ich eben hiermit zurück mit allen Konsequenzen. Das ist mir letztlich immer noch lieber, als am Ende bei einem Scheitern der Aktion möglicherweise die Mitschuld am Tod von Millionen Menschen zu tragen. Einen schönen Abend noch, die Herren! Und möge Gott uns allen beistehen und vergeben, wenn das hier schiefgeht!". Damit löste er seine Handflächen von der Schreibtischplatte und verließ erhobenen Hauptes den Raum, während sich die Zeiger der Wanduhr über der Tür unaufhaltsam auf vier Uhr nachmittags zubewegten und ihm die entrüstete Stimme des cholerisch wirkenden Yardleiters nachrief: "Ich hoffe, Sie wissen, daß Sie trotz Ihres Ausscheidens weiter an die Geheimhaltungsklausel Ihres Arbeitsvertrages gebunden sind, es sei denn, Sie wollen unbedingt Ihr weiteres Leben wegen Landesverrat im Gefängnis verbringen". John Wayne aber lächelte im Hinausgehen nur milde in sich hinein und raunte dabei leise: "Keine Sorge, ich weiß ganz genau, was ich zu tun habe!" ...

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