INSPEKTOR SVENSSON: WANNABE SVENSSON [Der neue Adventskalenderroman]

Die folgenden Ereignisse finden zwischen 12 und 13 Uhr am Vortag zum Heiligen Abend des Jahres 2009 nach Christi Geburt statt. Alles, was Sie lesen, ereignet sich in Koordinierter Weltzeit UTC.

23.12.2009 - 12:00 UHR

[Bei Lukas findet sich Besuch ein, Wannabe findet keinen Zugang zu einem Künstler]

In der Küche der Svenssons brutzelte der Festbraten munter seinem geschmackvollen Endzustand entgegen, als es mit dem letzten Gongschlag Big Bens aus der Ferne plötzlich auch an der Haustür läutete. Yelena warf rasch ihre Schürze achtlos beiseite und lief ganz aufgeregt in den Flur, wo ihr beim Betätigen der Wechselsprechanlage zwei muntere weibliche Stimmen und ein Kinderlachen entgegenschalten: "Hallo Ihr Lieben, wir sind's! Cathrin, Jane und der kleine Luke!". Freudestrahlend drückte Yelena auf den Türöffner, und nur eine Minute später standen die drei dick eingepackten Gäste vor der geöffneten Wohnungstür und baten frierend um Einlaß. Yelena aber schloß jeden der drei fest in ihre Arme und drückte sie an ihr Herz, wobei sie ausrief: "Ach, wie schön, daß ihr sein da endlich! Jetzt nur schnell kommen herein und wärmen Euch in Küche an Herd auf. Da nämlich brutzelen ... Bosche moij, ich ja noch haben Braten in Röhre". Jane, die gerade ihrer Freundin Cathrin aus dem Mantel half, zwinkerte Yelena zu und meinte mit einem Blick auf deren schlanken Bauch: "Aber Mutti! Davon sieht man bei Dir ja gar nichts! Mir hat man das damals schon gleich angesehen. Hast Du das denn Deinem Mann überhaupt schon gesagt?". Yelena verstand die Anspielung und schmunzelte: "Ach Du! Immer ruhig machen Späße mit altes Mütterchen. Du von mir nix mehr bekommen Brüderchen oder Schwesterchen. Biologisches Uhr haben längst getickt zu Ende ... Und jetzt ihr machen euch gschon emütlich, ich mich noch müssen kümmern um großes, dickbauchiges Vogel ...". Lukas Svenssons Kopf lugte verstohlen hinter der Schlafzimmertür hervor: "Hat da jemand grad über mich gesprochen!". Yelena winkte nur lächelnd ab und verschwand dann raschen Schrittes in der Küche. Ihr Gatte aber stürmte, sich den eben erst übergestreiften Anzug noch einmal eilig zurechtrückend, auf die drei mittäglichen Gäste zu und begrüßte sie nun allesamt mit einer liebevollen Umarmung. Dann half er auch seiner Stieftochter Jane und seinem Enkel Luke aus deren Jacken, die er behutsam an den Garderobenständer neben seinem alten Trechcoat hing. Anschließend nahm er sein Patenkind Luke auf den Arm und entschwand mit ihm - vergnügt die Melodie von "You Are The Sunshine Of My Life" vor sich hersummend - in die Küche. Cathrin und Jane aber hakten sich munter unter und folgten seinem Beispiel.

In der Küche war Gastgeberin Yelena Svensson derweil keineswegs untätig gewesen. Sie hatte sic die Topflappen übergezogen, und stellte nun voller Stolz wie auf einem Präsentierteller den Truthahn in der Mitte der festlich gedeckten Tafel zur Schau. Cathrin und Jane griffen ihr unter die Arme, indem sie rasch die Schüssel mit den Kartoffeln, dem Gemüse und der Soße dazugesellten. Lukas aber, der seinen kleinen Namensvetter inzwischen abgesetzt hatte und nun auf dem hohen Kissenberg eines der Küchenstühle thronen ließ, kümmerte sich um das Entkorken des passenden Rotweins sowie um das Öffnen der Traubensaftpackung für den kleinen Luke. In diesem Augenblick klingelte es erneut an der Haustür. Lukas Svensson aber sprach mit ruhiger Stimme zu seiner, bereits im Loslaufen begriffenen Frau: "Laß nur, mein Engel, ich geh schon!". Damit begab er sich bedächtigen Schrittes in den Flur, wo nunmehr seinem Ohr über die eingeschaltete Wechselsprechanlage eine durchaus vertraute Stimme entgegenschallte, welche - von Zähneklappern unterbrochen - rief: "Ich bin's Papi, Lisa! Und die Mutti hab ich auch mitgebracht!". Lukas' Gesicht erstrahlte schon allein bei dieser kurzen Vorankündigung in freudiger Erwartung seiner geliebten Tochter und der ihm nach all den Jahren der Trennung inzwischen wieder freundschaftlich verbundenen Exfrau. Und so drückte er kräftig auf den roten Knopf neben dem Lautsprecher, wodurch mit einem Surren die Haustüre aufsprang und so die wartenden Frauen einließ. Es dauerte nicht einmal eine Minute, da standen Lisa und Nina Svensson im Flur, wo Lukas ihnen sogleich aus den dicken Winterjacken half und sie dann - nach einer ausgiebigen und herzlichen Umarmung - bat, in die Küche durchzutreten. Dort angekommen wurden sie sogleich von Yelena, Cathrin und Jane in Empfang und in den Arm genommen. Nur dem kleinen Luke war das ganze Umarmen ein bißchen unheimlich, und so reichte er den zwei Neuankömmlingen ein wenig schüchtern und dennoch brav nur die kleine Hand zum Gruß. In Windeseile hatten die beiden Gastgeber schließlich auch die zwei Nachzügler unter ihren Gästen am Tisch plaziert und dann Wein und Traubensaft in die, darauf bereitstehenden Gläser eingeschenkt. Dann aber nahmen auch sie an den beiden Stirnseiten platz. Nun saßen sie endlich alle gemeinsam um den langgemachten Eßtisch verteilt und legten - jeder für sich - für einen Augenblick im Angesicht all der aufgetischten Köstlichkeiten die Hände andächtig in den Schoß. Stille kehrte ein im Raum, nur der kleinste unter den Gästen ruckelte ein wenig nervös auf seinem Kissenthron hin und her.

Lukas aber erhob erst sich und dann seine Stimme, indem er feierlich verkündete: "Herr, wir danken Dir, daß Du uns heute alle hier gesund und munter zusammenkommen ließest und daß Du uns mit diesem reichen Mahl beschenkt hast! So laß uns denn gleichermaßen Deiner Geburt und Deiner nahen Wiederkunft gedenken, und laß uns einander und all unseren Mitmenschen stets mit derselben Liebe begegnen, mit der Du uns begegnest! Amen!". Yelena, Jane, Cathrin, Lisa und Lukas Exfrau Nina stimmten gemeinsam bekräftigend in jenes "Amen!" ein, während der kleine Luke ein unsicheres "Ey man?!" hervor- und damit zugleich die versammelte Frauenmannschaft zum Schmunzeln brachte. Der Hausherr aber strahlte inmitten all seiner Gäste einfach nur überglücklich und sprach: "Wie schön es doch ist, seine Lieben so zahlreich versammelt zu haben und mit euch nun dieses festliche Mahl teilen zu dürfen. Doch denken wir, bevor wir mit dem Essen beginnen, auch an all diejenigen, die heute nicht mit uns an diesem Tisch sitzen und sich nicht an solchen Köstlichkeiten laben können. Denken wir für einen Moment an die Menschen, die gar nichts besitzen - nichts außer ihrem Leben, ihrem Glauben und der Hoffnung auf ein neues, besseres Morgen. Laßt uns einen Toast ausbringen auf sie und auf die, die ihnen durch ihr unermüdliches Tun dabei helfen, das Leben auf Erden menschenwürdiger und erträglicher zu gestalten. Und nicht zuletzt sollten wir auch für all jene beten, die ihren Mitmenschen immer nur mit Argwohn und Spott begegnen und sich das Leben durch ihre angestaute Bitterkeit dabei oft selbst unnötig schwer machen, allen voran mein langjähriger Kollege und Partner Charles Wannabe. Möge auch er gerade in diesen festlichen Tagen für sich einen Weg finden, der ihm neue Lebensfreude und neues Glück beschert! In diesem Sinne: Auf ein frohes und gesegnetes Fest für alle Menschen! Und auf ganz besonders schöne und besinnliche Feiertage für den guten, alten Charles!". Nun erhoben auch sämtliche Ladies erst sich von ihren Stühlen und dann ihre, mit blutrotem Rebensaft randvoll befüllten gläsernen Kelche und verkündeten einstimmig: "Auf ein frohes und gesegnetes Fest!". Nur der kleine Luke sagte nichts und leerte stattdessen sein volles Saftglas in einem einzigen Zug, wobei sein kleiner Bauch zugleich ein leises Knurren von sich gab.

Auch im Hyde Park nahe der Speakers Corner - jener Ecke, an der von Zeit zu Zeit große Reden geschwungen wurden - knurrte leise ein leerer Magen, der seinem Besitzer Henry Fist allerdings momentan weitaus weniger Kopfzerbrechen machte als der Vorschlag eines gewissen Herrn Cypher, mit ihm gemeinsam mittels eines nuklearen Holocausts die Welt zu vernichten. So stapfte er mit hängendem Kopf bibbernd durch den dichten Schnee und versuchte, das Für und Wider jenes wahnwitzigen Plans nüchtern gegeneinander abzuwägen, um so zu einer möglichst objektiven Entscheidung zu gelangen. Cypher schien ihm, seinen Plan gut durchdacht zu haben. Und er würde ihn zweifellos mit oder ohne sein Zutun in die Tat umsetzen. Schließlich gab es gewiß auch noch andere Atomforscher, die gegenüber solch einer Verlockung des Geldes und der Macht nicht abgeneigt wären. Wenn er hingegen diese Chance ergreifen würde, dann wäre er - der gesellschaftlich ausgestoßene und geächtete Henry Fist - mit einem Male derjenige, der mit über Gedeih und Verderb, über Leben und Tod der ganzen Menschheit entschiede. Und das wäre schon ein ganz gewaltiger Karrieresprung. Und die Menschen, die er dabei zugrunde richten würde?! Mußten die ihm denn leid tun? Hatte er denn jemals jemandem so leidgetan, daß der auch nur einen Moment darüber nachgedacht hätte, etwas zu machen, was seine Armut mildern könnte?! Nein, um die Menschheit war es wohl kaum schade: Die einen lebten in Saus und Braus und scherten sich einen Dreck darum, wie es den Armen ging - die hatten es eigentlich nicht anders verdient, als daß man sich selbst einen Dreck um sie scherte und ihnen den Garaus machte. Und die andern lebten im Elend wie er und hofften jeden Tag darauf, daß man sie endlich von ihren Qualen erlösen würde - für die aber bedeutete dann der Tod durch die Bombe vielleicht eben genau diese Erlösung! Im Grunde genommen sprach also doch alles dafür! Und so erhob Henry Fist sein blaßes Haupt und swarf es trotzig den herabprasselnden Schneeschauern entgegen und murmelte: "Ja, genau, ich werde es tun! Zum Teufel mit der verkommenen Welt! Es lebe die gewaltige, alles verändernde Sprengkraft des Atoms!".

Zu etwa gleicher Zeit war auch der Pferdeschlitten mit Pauli, Diane und Wannabe an seinem Ziel vor dem Anwesen in der Hyde Park Street 24 angelangt. Die Drei stiegen aus und liefen zu der großen gußeisernen Eingangspforte. Dort angekommen betätigte Charles den goldenen Klingelknopf, während Pauli ihm auf die Schulter klopfend, erklärte: "Machen Sie nur gemeinsam mit Diane ihren Besuch bei diesem Herrn, ich vertrete mir inzwischen im Park ein wenig die Füße, wenn Sie gestatten?!". Wannabe war sichtlich überrascht darüber, daß Pauli bei diesem Wetter einen beschwerlichen Spaziergang im eisigen Schnee der Aussicht auf die warmen Räumlichkeiten einer prunkvollen Villa vorzog. Dennoch reichte er seinem Gefährten kopfnickend die Hand und sprach: "Bis hierhin erst einmal vielen Dank für alles! Sie ahnen ja gar nicht, wie sehr Sie mir geholfen haben! Es ist mir eine wahre Freude und Ehre, Sie kennengelernt haben zu dürfen! Also dann: Man sieht sich!". Pauli aber legte beide Hände freudestrahlend um die des Privatdetektivs und erwiderte: "Auch mir war es ein wahres Vergnügen, mein Sohn, einmal mehr mitzuerleben, wie binnen kürzester Zeit aus einem verschlossenen und unzufrieden mit sich und seiner Umwelt wirkenden, ungläubigen Zeitgenossen ein wahrhaft liebenswerter Mensch entstand, indem er die harte Schale ablegte und sich das Herz erweichen ließ. Sie werden es erleben, mein Sohn, so lebt es sich in Zukunft entschieden besser und länger! Glauben Sie mir! Und vor allem, glauben und vertrauen Sie Gott! Er wird Ihnen zukünftig bis in alle Ewigkeit den rechten Weg weisen. Auf Wiedersehen, mein Freund!". Erst jetzt bemerkte Charles Wannabe, beim Berühren von Paulis linker Hand, daß dort in der Handinnenfläche eine offene Wund klaffte. Entgeistert besah er sich den recht tiefen Riß, während Pauli nur milde lächelnd meinte: "Ach, das! Das ist weiter nichts, da bin ich nur beim Kistenschleppen vorhin an einem herausragenden Nagel hängengeblieben. Sehen Sie, es blutet ja schon fast gar nicht mehr! Solche Wunden hatte ich schon einige im Leben, die verheilen bei mir immer recht schnell!". Damit löste er seine Hand eilends aus der Wannabes und entschwand dann in aller Seelenruhe in Richtung Hyde Park, sich im Gehen noch ein letztes Mal umdrehend und Charles und Diane fröhlich zuwinkend.

Wannabe aber betätigte gedankenversunken noch einmal den Klingelknopf neben dem Eisentor, worauf ein Summen selbige sogleich aufspringen ließ. Diane und Charles schlüpften durch das geöffnete Tor und liefen sodann über einen schmalen Betonweg die fünf kleinen Stufen zum Eingang der Villa hinauf. Dort wurden sie an der leicht geöffneten Tür schon von einem Mann im silbernen Morgenmantel empfangen, der sie nach ihren Namen sowie dem Anlaß ihres Besuchs fragte und Wannabe in seinem schäbigen Aufzug dabei ein wenig argwöhnisch beäugte. Charles räusperte sich kurz, dann sprach er: "Nun, das an meiner Seite ist Lady Diane S. Pencer. Ich selbst heiße Charles Wannabe und komme von der Detektei 'Wannabe Svensson'. Ich ermittle derzeit im Fall einer verschwundenen hölzernen Statue, wobei mich die Ermittlungen nun unter anderem auch hierher führen. Und mit wem habe ich die Ehre?". Der, mit stoppligem Dreitagebart und frischgefönter, silbergrauer Löwenmähne vor ihm stehende Mann riß die Haustüre mit einem Male sperrangelweit auf, postierte sich breitschultrig - den Kopf leicht nach hinten werfend - im Türrahmen und erwiderte: "Ardo, mein Name! Leon Ardo, Kenner und Sammler von Kunst. Eine verschwundene Statue, sagen Sie?! Darf man fragen, um welche es sich dabei handelt?". Wannabe nickte: "Man darf! Es geht um den Paulus aus der Saint Pauls Cathedral, der gestern abend ...". Ardo schlug entsetzt die üppig edelsteinberingten Finger seiner Hände über dem Kopf zusammen: "Um Gottes Willen, nicht doch der Paulus! Das ist doch nicht möglich! Ich hab ihn doch gestern abend erst selbst noch von Angesicht zu Angesicht bestaunen und ablichten dürfen. Sie müssen nämlich wissen, es verlangt mich einfach mehrere Male die Woche danach, diesem Meisterwerk nahe zu sein. Am liebsten hätte ich ihn ja hier ganz bei mir zu ...". Sein ungebremster Redefluß kam mit einem Male jäh zum Erliegen. Nervös strich er sich durchs buschige Haar: "Ach herrje, dieser, für Sie vielleicht etwas ungewöhnliche Wunsch macht mich doch nicht etwa verdächtig?!". Wannabe nickte: "Oh doch, das macht er! Ebenso wie ihre geradezu fetischhafte Neigung zu seiner fotografischen Ablichtung aus allen möglichen und unmöglichen Blickwinkeln. Und darum nun, um es mal auf den Punkt zu bringen, meine Frage: Haben Sie gestern abend die Paulusfigur aus der Kirche entwendet? Raus mit der Sprache! Ja oder nein?". Im langen Morgenmatel warf sich der selbsternannte Kunstsammler vor Charles Wannabes Füßen zu Boden und beteuerte unter Tränen: "Nein! Himmel! Nein! Ich hätte doch nie! Wie könnte ich denn?! Wie können Sie überhaupt?!". Ebenso rasch, wie er zu Boden gegangen war, stand er im nächsten Moment wieder auf den Beinen. Die Tränen in seinen Augen waren wie auf Kommando versiegt und einer spontan aufkommenden Empörung gewichen, mit der er nun losbrüllte: "Ja, wie können Sie es auch nur wagen, mir etwas Derartiges zu unterstellen?! Hinfort mit Ihnen, gehen Sie mir aus den Augen! Verlassen Sie sofort mein Anwesen!". Damit schlug er Charles und Diane wutentbrannt die Haustür vor der Nase zu. Wannabe aber verkündete sogleich lauthals durch die geschlossene Tür: "Für heute sind Sie mich vielleicht los! Aber heute ist nicht alle Tage! Ich komm wieder, keine Frage!". Diane und er machten daraufhin auf dem Hacken kehrt und liefen zurück zum Pferdeschlitten, auf dessen Kutschbock sie gemeinsam auf Paulis Wiederkehr zu warten gedachten.

Der war derweil auf seiner einsamen Wanderung inmitten des Hyde Parks an einer Wegkreuzung angelagt, von wo ihm aus anderer Richtung mit zugekniffenen Augen Henry Fist entgegenstiefelte. Beinahe hätte der gedanklich abwesende Mann den Geistlichen vor sich über den Haufen gerannt. Erst in allerletzter Sekunde bemerkte er ihn doch noch und blieb entgeistert stehen, wozu er stammelte: "Sie, Sir?! Was verschlägt ... verschlägt Sie denn ... denn bei diesem ... diesem Wetter hierher?". Pauli zuckte mit den Schultern: "Das Gleiche könnte ich auch Sie fragen, zumal Sie für diese Witterung ja noch deutlich unpassender gekleidet sind als ich! Hatten Sie Glück auf Ihrer Jobsuche?". Henry Fist blieb stumm. Verunsichert überlegte er, was er auf diese Frage erwidern sollte. Schließlich rang er sich zu einem leisen "Ja" durch. Pauli streckte ihm freudig die Hand entgegen: "Na also, wer sagt's denn?! Und was ist das für eine Arbeit, wenn ich fragen darf?". Henry Fist senkte den Kopf ein wenig, um so den unmittelbaren Augenkontakt zu seinem Gegenüber so gut es ging zu vermeiden: "Ach, etwas mit Atomenergie eben. Einfach, schnell und äußerst gut bezahlt. Da kann man dann doch quasi gar nicht anders als zugreifen, oder?!". In Henry Fists Frage klang ein wenig so etwas wie eine versteckte Bitte um Absolution mit. Das bemerkte auch Pauli und entgegnete nachdenklich: "Nun, im Grunde genommen ist das richtig! Viel Geld für wenig Arbeit, das klingt natürlich verlockend! Nur ist bei solchen Angeboten erfahrungsgemäß auch die Gefahr immer recht groß, daß man einem Betrüger oder Halsabschneider auf den Leim geht. Man sollte sich daher im Voraus immer erst einmal fragen, ob man das damit verbundene Risiko, am Ende von der Gegenseite nur über den Tisch gezogen zu werden, eingeht und einem möglichen Gauner dabei nicht nur seine Begabungen und Fähigkeiten, sondern auch seine Seele verkauft. Denken Sie doch nur einmal daran, wie es Judas erging, der für 30 Silberstücke Jesus an die Hohepriester verriet und ihn damit ans Kreuz lieferte. Am Ende erhängte er sich aus lauter Verzweiflung am Ast eines Baumes. Nein, man darf bei allem, was man tut, niemals seinen Glauben und die Liebe zu seinen Mitmenschen verraten. Sonst richtet man sich schon zu Lebzeiten selber, noch bevor dereinst das Gericht Gottes über einen hereinbricht!". Henry Fist schluchzte laut, und weinend bekannte er: "Vater, vergib mir! Denn ich habe schwere Schuld auf mich geladen! Wie konnte ich mich bloß so blenden lassen vom glänzenden Schein des Geldes?! Ich war wahrhaftig im Begriff, an diesen Lou Cypher meine Seele zu verkaufen und ihm obendrein die gesamte Menschheit mit einem Schlag ans Messer zu liefern". Henry Fists Knie begannen zu zittern. Er packte die Knopfleiste vom Mantel Paulis, um sich daran festzuhalten, und flehte: "Bitte, bitte, helfen Sie mir! Er kommt doch heute nachmittag um 5 wieder hierher und will mich holen, dieser Teufel! Und dann will er alles Leben auf der Erde auslöschen, mit einer riesigen atomaren Explosion! Er hat da ein geheimes Labor und einen Atombunker, alles tief unter der Erde, hier in London. Nur, wo genau, das kann ich Ihnen leider nicht sagen, da ich auf der Hin- und Rückfahrt ja durch die totale Verdunklung seines Wagens nichts sehen konnte! Sie müssen ihn aufhalten, sonst sind wir allesamt verloren! Bitte!". Pauli schaute Henry Fist einen Moment lang erschrocken in die Augen. Dann aber strich er ihm ruhig übers zerzauste Haar und sprach mit fester Stimme: "Schon gut, mein Sohn! Sie haben sich richtig entschieden! Laufen Sie jetzt nur rasch in Richtung Hyde Park Street, und teilen Sie alles, was Sie wissen, dort Diane und dem Herrn mit, der vorhin unter der Brücke bei uns war. Er wird schon wissen, was zu tun ist. Ich selber muß noch ein wenig hierbleiben und eine wichtige Verabredung wahrnehmen! Nur keine Angst, Henry, mit Gottes Hilfe wird alles gut! Gemeinsam werden wir schon dafür sorgen, daß dieser verfluchte Lou Cypher Ihnen und uns allen nichts anhaben kann!". Schnellen Schrittes lief Henry Fist in die Richtung, aus der Pauli gekommen war, von dannen. Der Gottesdiener aber blieb im menschenleeren, verschneiten Park allein zurück ...

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