INSPEKTOR SVENSSON: WANNABE SVENSSON [Der neue Adventskalenderroman]

Die folgenden Ereignisse finden zwischen 8 und 9 Uhr am Vortag zum Heiligen Abend des Jahres 2009 nach Christi Geburt statt. Alles, was Sie lesen, ereignet sich in Koordinierter Weltzeit UTC.

23.12.2009 - 08:00 UHR

[Lukas' Treiben steht in den Sternen, Wannabe erblickt den Großen Wagen]

Big Ben verkündete den Londonern weithin hörbar den Anbruch der achten Stunde, als Charles Wannabe seinem Ferrari unmittelbar vor der London Bridge wieder entstieg. Er verschloß mittels der Fernbedienung mit dem Pferdchenanhänger die Zentralverriegelung seines Luxusschlittens, ging aber - während er über sein Smartphone das Paulusbild wie versprochen an Claudias Handy übersendete - noch einmal zur Beifahrertür und kontrollierte, ob auch sie fest verschlossen war. In einer solchen Gegend wie hier konnte man ja schließlich nie wissen. Beim anschließenden Versuch, die Straße zu überqueren, raste ein großer Laster mit der Aufschrift "F.C.E. Logistics - Cypher & Co. - London E1" direkt an ihm vorbei durch eine große Pfütze, wobei das schmutzige Regenwasser in hohem Bogen auf Charles Wannabe zuschoß und dabei seinen teuren Designermantel von einer Sekunde auf die andere nahezu komplett von oben bis unten durchnäßte. Fluchend schüttelte sich Charles Wannabe, um so zumindest einen Teil der aufdringlichen Nässe gleich wieder loszuwerden. Hatte denn dieser Trottel von einem Fernfahrer keine Augen im Kopf?! Nur allzugern wäre er dem rücksichtslosen Zeitgenossen nachgefahren und hätte ihn an der nächsten roten Ampel zur Rede gestellt, aber seine Ermittlungen ließen ihm für derartige Aktionen leider keine Zeit. Und so überquerte er stattdessen langsam vor sich her tropfend die Fahrbahn und stieg anschließend jene schmale Steintreppe seitlich des Brückengeländers hinab, deren Stufen ihn direkt unter die bogenförmige Brücke ans Themseufer führten. Dort standen und saßen ein Dutzend Männer, Frauen und Kinder in schäbige, schmutzige Kleidung gehüllt um eine große aufgestellte Metalltonne herum und wärmten sich an jenem Feuer, das sie dort mithilfe von gesammelten Holzresten und alten Zeitungen zuvor mühsam entfacht hatten. Charles Wannabe, der aufgrund der eisigen Witterung und des durchnäßten Mantels auch ein wenig zu frieren begann, gesellte sich kurzerhand zu ihnen und hielt seine klammen Hände in die angenehme Hitze. Ein kleiner Junge, welcher dabei neben ihm stand, besah den Fremden prüfend von oben bis unten und meinte schließlich: "Hey, Alter! Wo hast Du denn die Spießerklamotten her? Wohl im Altkleidercontainer hinterm Harrods gewühlt, wie?!". Charles Wannabe löste seinen Blick für einen Moment von der lodernden Flamme vor sich und erwiderte leicht genervt: "Was heißt hier Alter, ich bin grad mal 37! Und meine Kleidung hab ich nirgendwo rausgewühlt, sondern eigens anfertigen lassen - bei meinem Maßschneider in Essex". Der Junge aber grinste: "Ja, klar! Und weil Du Knete ohne Ende hast, treibst Du Dich morgens hier unter der Brücke rum, wärmst Dir Deine kalten Pfoten an unserem Feuerchen und hast in Deiner angeblich maßgeschneiderten Hose am Hintern einen fetten Riß". Charles griff sich erschrocken mit der Hand ans Gesäß und bemerkte das beschriebene Loch. Jetzt dämmerte es ihm. Das also hatte dieser Alfred vorhin gemeint, als er ihn auf seinen Hintern ansprach. Den Dreiangel mußte er sich dann wohl schon bei seinem Sturz in der Kirche geholt haben. Seine Wangen bekamen mit einem Mal trotz der ihn umgebenen Kälte eine zartrosa Färbung. Der Junge neben ihm aber nutzte Wannabes momentane Sprachlosigkeit für eine weitere kleine Frötzelei: "Na, hab ich Dich ertappt?! Aber nein, sicher gibt es bei einem Schlaumeier wie Dir auch dafür eine ganz logische Erklärung. Laß mich mal raten! Du bist bestimmt Prinz Charles, und Deine königliche Mami hat Dich incognito losgeschickt, um die 20 besten Zubereitungsmethoden für Ratte am Spieß rauszufinden. Stimmts?!". Charles Wannabe, der seine kurzzeitig verlorene Fassung endlich wiederzufinden schien, knurrte sichtlich verärgert: "Nein, Du kleiner Klugscheißer! Ich heiße Charles Wannabe, bin Privatdetektiv und auf der Suche nach einer verschwundenen Holzstatue". Der vorlaute Knirps reichte dem Expolizeibeamten die Hand und priff dazu anerkennend durch seine obere Zahnlücke: "Ok, ich geb mich geschlagen! Der Einfall mit dem Schnüffler, der hier in so einem Aufzug nach einem Holzkasper sucht, ist so herrlich bescheuert, daß man es Dir schon fast wieder glauben möchte. Respekt, Alter!".

Schmunzelnd schüttelte Charles Wannabe die schmuddlig-rauhe Kinderhand, und sah gnädig darüber hinweg, daß ihn der Junge schon wieder Alter genannt hatte. Der kleine Frechdachs fing an, ihm zu gefallen. Und so beugte er sich zu ihm herunter und fragte: "Hat so ein vorlauter Rotzlöffel wie Du vielleicht auch einen Namen?". Der Kleine nickte: "Hab ich! Mein Erzeuger hat mir den dämlichen Namen Cedrick gegegeben. Und das war dann auch schon fast alles, was er mir gab, außer ein paar Ohrfeigen und einem Tritt in den Hintern, als ich 10 Jahre alt war. Seitdem leb ich auf der Straße, drei Jahre mittlerweile. Hier kennt mich jeder nur als Mike L. Jag's Sohn, wobei das L für Lordi steht, so hieß wohl mal mein Großvater. Das hat mir dann auch den Spitznamen 'Kleiner Lord' eingebracht". Charles Wannabe hakte noch ein wenig nach: "Du erwähntest, daß Dein Vater Dich rausgeworfen hat. Aber was ist denn mit Deiner Mutter, hat sie gar nichts dazu gesagt?!". Der Junge schniefte und rieb sich über die Augen: "Nein, das konnte sie nicht. Sie ist nämlich bei meiner Geburt gestorben". Noch einmal wischte sich der Kleine über die glänzend gewordenen Augen. Dann aber ballte er sogleich die Faust und reckte sie Charles entgegen: "Nicht, daß Du denkst, ich heule hier rum wie ein Mädchen. Ich hab nur ein bißchen Rauch im Auge und einen Schnupfen ... Den kriegst Du übrigens auch, wenn Du nicht bald mal den blöden Mantel ausziehst". Charles Wannabe zuckte mit den Schultern: "Ich hab aber nichts anderes zum Drüberziehen. Und ganz ohne Mantel ist es hier doch erst recht zu kalt!". Aus der Ferne drang in dieser Sekunde im Hintergrund ein zarter Glöckchenton an Charles Ohr, der Junge neben ihm aber riß freudestrahlend beide Arme in die Luft: "Wie aufs Stichwort! Das sind sicher Exbischof Hope und Diane, zwei unserer guten Seelen hier im Londoner Underground. Die haben bestimmt was Warmes für Dich zum Anziehen. Komm mit, wir fragen sie! Ich nehm Dich jetzt erstmal unter meine erfahrenen Fittiche". Damit packte der Junge den Exchefinspektor am Arm und zog ihn mit sich fort in Richtung des - von zwei prachtvollen Pferden gezogenen - Planwagens, der am Themseufer langsam auf sie zurollte. Auf halbem Weg aber bremste der Knabe noch einmal ab und flüsterte Charles zu: "Aber die Geschichte mit dem Schnüffler und der verschwundenen Holzpuppe laß lieber weg! Der Bischof ist schließlich ein Mann Gottes. Und ob man nun an Gott glaubt oder nicht, so einen hohen Herrn sollte man besser nicht anlügen. Du verstehst?!". Charles lächelte und hob den Zeige- und Ringfinger der rechten Hand zum Schwur: "Jawohl, ich verstehe! Ich sag von jetzt an immer die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit, so wahr ich Wannabe heiße!". Cedrick aber schüttelte ungläubig den Kopf: "Ok, Mister Möchtegern, das war schon mal eine Lüge! Und gleich eine derart schlechte, daß sogar ich sie auf Anhieb durchschaut hab. Ich glaub, das mit dem spontanen glaubhaften Schwindeln muß ich mit Dir noch dringend üben". Damit liefen die Beiden weiter zu dem Pferdewagen, der just im nächsten Moment unmittelbar vor ihnen Halt machte, und von dem ein - mit einem altmodischen schwarzem Talar bekleideter - Mann abstieg, dessen Alter sich aufgrund seines umfangreichen Vollbarts schlecht schätzen ließ. Ihm folgte, ganz in blütenweißen Tüll und ein beigefarbenes Strickjäckchen gehüllt, ein engelsgleiches weibliches Geschöpf mit einem bezaubernden, einnehmenden Lächeln und einem schlichten silberfarbenen Haarreif in der Hochsteckfrisur.

Der ältere Herr im schwarzen Umhang kam sogleich auf Charles Wannabe zu und schloß ihn fest in seine Arme, wozu seine tiefe Baßstimme ausrief: "Oh, ein Neuankömmling. Sei uns herzlich willkommen! Tja, Exbischof Hope ist heute leider verhindert, so daß er mich quasi als seine Vertretung hergeschickt hat. Mein Name ist John Paul - ok, eigentlich John George Ringo Paul, was mir als Junge den Spitznamen Beatles einbrachte. Aber heute nennen mich alle ganz einfach nur noch Pauli. Meine liebe Güte, Du bist aber naß geworden!". Charles betrachtete sich den bärtigen Mann ein wenig genauer. Hatte er diesen Pauli erst nur für einen weiteren Maulwurf - wie er die Leute der Kirche oftmals abfällig zu nennen pflegte - gehalten, so machte das faltige Gesicht ihm nun auf Anhieb einen merkwürdig vertrauten und zugleich vertrauenserweckenden Eindruck. Kannte er den Mann vielleicht, oder erinnerte er ihn vom Aussehen und Auftreten einfach nur an Lukas Svensson?! Um länger über diese Frage nachzusinnen, blieb Charles allerdings keine Zeit, denn jener Pauli war bereits dabei, ihm den nassen Mantel auszuziehen, wozu er seiner reizenden Gehilfin zurief: "Diane, meine Liebe, würdest Du bitte mal unter der Plane unseres Wagens nachsehen, ob wir für unseren Freund hier etwas Warmes zum Anziehen haben". Diane nickte und stieg von hinten auf den Planwagen, woher sie einige Minuten später mit einem dicken, muffigen Filzmantel zurückkehrte, in den sie dem - wie angewurzelt dastehenden - Charles Wannabe auch gleich hineinhalf. Im Anschluß reichte sie ihm ihr zartes Händchen und wisperte sanft: "Ich bin Diane. Mit bürgerlichem Namen Diane S. Pencer. Und mit wem habe ich die Ehre?". Möglicherweise vernebelte dem alten Haudegen Wannabe der Geruch von Mottenkugeln, der recht deutlich von seiner neuen Ummantelung an seine Nase drang, die Sinne - vielleicht war es aber auch der Charme dieses märchenhaften Engels, der ihn anstrahlte. Wie dem auch sei, Charles rang noch einige Sekunden mit sich selbst, bis seine Sprachvermögen wiederkehrte: "Ich heiße Charles ...". Klein-Cedrick zupfte dem Exchefinspektor am Mantelsaum und schüttelte stumm den ernsthaft dreinblickenden Bubikopf hin und her. Wannabe erinnerte sich an den Hinweis des Jungen, und berichtigte: "Charles Brown, aber meine Freunde nennen mich Charlie Brown ... und ich bin auf der Suche nach ... nun ja, nach einer Schnitzerei, die einem Bekannten von mir abhanden gekommen ist und an der ihm sehr viel liegt!". Cedrick hielt ihm anerkennend den hochgestreckten Daumen entgegen und flüsterte leise, so daß nur Charles es hören konnte: "Ein Weißer, der Brown heißt! Auf sowas kommst echt nur Du! Erstklassig geflunkert!". Aber auch Diane machte ein recht überraschtes Gesicht: "Ihr Name ist Charles?! Welch ein Zufall! Mein früherer Ehemann hieß nämlich auch Charles. Leider war unsere Ehe nicht von dauerhaftem Erfolg gekrönt. Aber immerhin hat er mir zwei wundervolle Kinder geschenkt. Zwei Jungs, um genauer zu sein - meine kleinen Prinzen!". Sie seufzte und ihr strahlendes Gesicht wurde für eine Sekunde sehr traurig: "Sie leben bei ihm, wissen Sie. Und ich hab sie nicht mehr gesehen, seit ich vor einigen Jahren in Paris ... Nun ja, lassen wir das! Ist keine schöne Geschichte! Erzählen Sie mir doch lieber die Ihre, damit ich auf andere Gedanken komme". Charles Wannabe räusperte sich kurz, dann begann er: "Also ich stecke gerade mitten in den Ermittlungen zu meinem ersten Fall. Die Holzfigur eines gewissen Paulus ist gestern abend nämlich aus der Saint Pauls Cathedral entwendet worden". Und mit einem Blick in Richtung der Obdachlosen, die sich inzwischen links von ihm ebenfalls an dem Pferdewagen Paulis eingefunden hatten, ergänzte er zaghaft: "Und da diese ... nun ja, diese Leute hier ... sich gestern auch in der Kathedrale aufhielten, dachte ich ...". Einer der Obdachlosen - der durch seine zerkratzte Hornbrille und sein recht gepflegtes Äußeres deutlich aus der Masse hervorstach - unterbrach ihn aufgeregt, die Hände zur Faust geballt: "Ach, da dachtest Du also, wir haben das Holzdings geklaut! Klar, immer wenn bei Euch Bessergestellten was wegkommt, dann waren es entweder die Ausländer oder die aus Eurer Gesellschaft Ausgestoßenen. Hoch leben die Vorurteile! Schönen Dank auch!". Charles Wannabe, der sich auf eigenartige Weise ertappt fühlte, winkte rasch ab und beteuerte: "So war das doch gar nicht gemeint, mein Herr! Was ich sagen wollte, war: Ich dachte, die hier Anwesenden hätten vielleicht etwas gesehen oder jemanden bemerkt, der sich in der Kirche an der Holzstatue zu schaffen machte. Und außerdem: Machen Sie mich hier bitte nicht dafür verantwortlich, daß die Gesellschaft Sie ausstößt. Sie brauchen sich ja nur eine vernünftige Wohnung und einen ordentlichen Job suchen, anstatt hier den ganzen Tag herumzulungern und Schnaps in sich hineinlaufen zu lassen". Die Fäuste des angesprochenen Mannes entkrampften sich wieder, und kopfschüttelnd sprach er: "Für Euch da oben ist immer alles so einfach! Sieh mich doch mal an! Wer gibt mir denn eine Wohnung oder Arbeit? Denkst Du, es macht mir Spaß, hier in der Kälte zu hausen - die zugige London Bridge als Dach überm Kopf, billigen Fusel als innere Heizung, eine zerknüllte Sonntagsausgabe der Times als Deckbett, Tag für Tag auf die Almosen und Wohltätigkeit anderer angewiesen? Nein, mein Freund! Früher, ja da hab ich gearbeitet und sogar recht gut verdient als Leitender Forschungsassistent im nordwestenglischen Kernkraftwerk Calder Hall. Mit dessen Abschaltung kam 2003 auch für mich das jähe berufliche Aus, und der soziale Abstieg begann. Einem knapp 50jährigen Forschungsassi gibt doch keiner mehr eine Arbeit, geschweige denn eine Umschulung. Ich hab ein Jahr als Vertreter Klinken geputzt, dann siedelte ich hier nach London über und versuchte es als selbständiger wissenschaftlicher Berater. Ich mußte in mein gewagtes Vorhaben im Vorfeld natürlich ziemlich viel Geld vorschießen, doch die großen Banken lockten ja auch mit großzügigen Krediten. Kaum aber geriet ich einmal aufgrund einer längeren Erkrankung des Herzens mit der Rückzahlung in Rückstand, da setzten meine ach so großzügigen Geldgeber gnadenlos die Daumenschrauben an. Mein kleines Häuschen in New Hampshire, in dem ich arbeitete und lebte, wurde gepfändet und versteigert. Tja, da saß ich mit einem Mal auf der Straße, keinen Penny in der Tasche und haufenweise Schulden am Hintern. Der altbekannte Teufelskreis begann: Ohne festen Wohnsitz keine Arbeit, ohne feste Arbeit keine Wohnung. Der Hunger zwang mich schließlich zu betteln, die Kälte zu trinken. Und dann kommt einer wie Sie, schaut verächtlich auf mich herab und will mich belehren. Das ist nicht nötig, glauben Sie mir! Ich bin schon durch die härteste Schule gegangen, die das Leben zu bieten hat - das Leben, das von hier unten aus gesehen bei weitem nicht so einfach gestrickt ist, wie Sie sich das aus Ihrer abgehobenen Vogelperspektive vorstellen!".

Wannabe schluckte. Diese Standpauke mußte er erstmal verdauen. Sichtlich verunsichert reichte er dem Mann die Hand: "Sorry, das ahnte ich ja nicht! Vielleicht beginnen wir einfach noch einmal von vorn. Also, mein Name ist Charles!". Zögernd ergriff der Obdachlose die ihm dargebotene Hand: "Ich heiße Henry, Henry Fist. Und auch ich muß mich wohl entschuldigen, aber sowas bringt mich immer in Rage, wenn einer mir das Leben erklären will. Ich hab doch nun echt alles versucht. Ich hab sogar mal studiert. Erst ein Semester Philosophie, dann Jura und Medizin, schließlich Atomphysik! Und wie weit hab ich es letztlich gebracht. Alles, was ich heute von mir sagen kann, ist: Hier steh ich nun, ich kluger Tor, und bin noch ärmer als zuvor ... Doch zurück zu Ihrem Anliegen, Charles. Ja, ich war gestern abend auch in der Kirche. Aber gesehen hab ich nichts Verdächtiges. Vielleicht fragen Sie ja einfach mal den Herrn Pauli. Der hat mich auf meinem Rückweg hierher gestern nacht nämlich begleitet und mir auf ganz anschauliche Weise das Wort Gottes ausgelegt. Er muß also auch in der Kathedrale gewesen sein, obwohl ich ihn da eigentlich gar nicht bemerkt hatte". Charles Wannabe wandte sich dem bärtigen Kuttenträger zu, der derweil zu seiner Rechten damit beschäftigt war, sich angeregt mit dem Rest der Obdachlosen zu unterhalten. Er wollte ihm gerade seine Fragen stellen, als der Gottesdiener freudig ausrief: "So, meine Lieben! Jetzt gibt es erstmal eine warme Suppe mit einen Kanten Brot und dazu einen herrlich heißen Pfefferminztee. Gelebte Nächstenliebe ist schließlich mehr als nur ein paar warme Worte!". Damit begab er sich wieder auf den hinteren Teil seines Planwagens, von dem die Beiden mit einem großen Behälter Tee, einem Aluminiumeimer voller Brotkanten und einem riesigen Kochkessel dampfender, lecker riechender Fischsuppe zurückkehrten. Der etwas überrumpelt dastehende Charles bekam von Pauli einen Kanten Brot und eine Blechschüssel Suppe samt Löffel in die Hand gedrückt, während Diane vor ihm niederkniete und ihm einen Plastikbecher Pfefferminztee hinstellte. Nachdem auch sämtliche Obdachlose mit Essen und Trinken versorgt waren, holte Pauli ein abgegriffenes kleines schwarzes Büchlein aus seiner Kutte hervor, schlug es auf und begann, mit feierlicher Stimme zu lesen: "Und Jesus ging hervor und sah das große Volk, und es jammerte ihn derselben, und er heilte ihre Kranken. Am Abend aber traten seine Jünger zu ihm und sprachen: Dies ist eine Wüste, und die Nacht fällt herein. Laß das Volk von Dir, daß sie hin in die Märkte gehen und sich Speise kaufen. Aber Jesus sprach zu ihnen: Es ist nicht not, daß sie hingehen, gebt ihr ihnen zu essen. Sie sprachen: Wir haben hier nichts denn fünf Brote und zwei Fische. Und er sprach: Bringet sie mir her! Und er hieß das Volk sich lagern auf das Gras und nahm die fünf Brote und die zwei Fische, sah auf zum Himmel und dankte und brach's und gab die Brote den Jüngern, und die Jünger gaben sie dem Volk. Und sie aßen alle und wurden satt und hoben auf, was übrigblieb von Brocken, zwölf Körbe voll. Und er legte es ihnen vor, daß sie aßen, und es blieb noch übrig nach dem Wort des Herrn. Die aber gegessen hatten, waren bei fünftausend Mann, ohne Weiber und Kinder - so sagt es uns das Wort Gottes in dem Evanglium nach Matthäus im Kapitel 14 in den Versen 14 bis 21. Und nun laßt es uns alle unserm Herrn gleichtun. Laßt uns dem himmlischen Vater Dank sagen und beten, bevor wir essen und trinken ...". Wannabe, der während der Vorlesung Paulis schon mit dem gierigen Verschlingen seiner herzhaften Suppe begonnen hatte, hielt inne und sah sich um. Erst jetzt registrierte er, daß keiner der anderen ausgehungerten Menschen um ihn herum bislang auch nur einen Bissen angerührt hatte. Stattdessen falteten sie nun alle gemeinsam ihre zittrigen, rauhen Hände ineinander und sprachen - den Blick gen Himmel gerichtet - mit Pauli im Einklang: "Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiligt werde Dein Name! Dein Reich komme! Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden! Unser tägliches Brot gib uns heute und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern! Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen! Denn Dein ist das Reich und die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen!". Beschämt stellte Charles Wannabe sein halbleeres Suppennapf für einen Augenblick zu Boden, legte die Hände etwas ungeschickt ineinander und stammelte ein leises "Amen!".

Pauli aber stand auf, legte seine Bibel beiseite und ging zu Wannabe hinüber. Er sah ihn mit gütigem Blick an, reichte ihm das eben abgestellte Napf und sprach: "Du brauchst Dich nicht zu schämen, daß Du schon gegessen hast! Sicher bist Du in vielerlei Hinsicht hungriger als all die anderen hier, mein Sohn. Du mußt auch kein Gebet sprechen, es sei denn, es wäre Dir ein inneres Bedürfnis. Jesus, unser Herr, will Dich nicht zu etwas drängen, er wartet mit offenen Armen darauf, daß Du von selbst zu ihm kommst und auf seinen Schultern all das ablegst, was Dich bedrückt. Was hälst Du davon, wenn Du jetzt erst einmal in Ruhe ißt und trinkst und mir dann Deine Geschichte erzählst und Deine Fragen stellst, Charles?!". Damit strich er sanft Wannabe übers Haar, und begann vor dessen Augen einen zweiten Brotkanten zu zerbrechen und die Brocken vorsichtig in die Fischsuppe in Charles Händen fallen zu lassen. Der Ex-Yardchef aber sah seinen Wohltäter nur mit großen Augen an, senkte dann sein Haupt und löffelte die ihm eingebrockte Suppe bis zum letzten aus ...

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